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Kommentar zum Film “Shahada” von Burhan Qurbani

Tagung der evangelischen Akademie Berlin 25.-27. Februar 2011
Manchmal hilft nur ein Wunder – Heil und Heilung im Film

Kommentar zum Film „Shahada“ aus muslimischer Sicht

von Silvia Horsch

Meine Aufgabe ist ein Kommentar zum Film aus muslimischer Sicht und ich habe versucht mich dabei am Thema der Tagung zu orientieren, was in diesem Falle gar nicht so leicht ist. Der Film ist zunächst einmal insofern sehr islamisch als Wunder gar keine Rolle spielen. Bleibt also noch der Begriff des Heils übrig und dieser ist im uns geläufigen Sinne christlich geprägt und im Islam so nicht vorhanden. Das heißt aber wiederum noch nicht, dass er für den Film auch keine Rolle spielt. Ein Kommentar zum Film Shahada ist unter diesem Aspekt daher nicht ganz einfach, ich will es trotzdem versuchen – und wie Sie sich vielleicht auch schon während des Films gedacht haben, macht auch eine christliche Perspektive auf diesen Film, in dem es um Muslime geht, durchaus Sinn.

Ich habe mir den Film in einem Kino in Neukölln in Anwesenheit des Regisseurs ansehen können. Burhan Qurbani sagte nach dem Film, es sei sein Anliegen gewesen, zu zeigen, dass das Leben als Muslim nicht einfach sei. Oder wie er es in Interviews formuliert hat, es gehe um „Menschen, die zwischen zwei Welten leben und sich an ihnen orientieren müssen, mit allen Widersprüchen und Möglichkeiten, die sie offerieren“.
[1]
Die Frage nach dem Heil oder der Heilung könnte man für diesen Film vielleicht umformulieren in die Frage nach der Versöhnung, der Versöhnung von Ansprüchen und Vorgaben aus zwei Welten, von religiösen Geboten und persönlichen Wünschen und Sehnsüchten, aber auch der Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit und Schuld und der Versöhnung zwischen Vater und Tochter.

Gelingt den Protagonisten diese Versöhnung?

Es geht um eine Tochter, die sich aufgrund ihres Lebenswandels im Konflikt mit ihrem Vater befindet. Zur Figur der Maryam wurde in den Kritiken häufig geschrieben, sie sei ‚westlich orientiert‘ – eine Beschreibung, die ich nicht nur deshalb ärgerlich finde, weil ‚westlich‘ mit triebgesteuerter Spaßkultur gleichgesetzt wird (wie der Song, der im Club gespielt wird, etwas aufdringlich deutlich macht). Auch die meisten westlichen Eltern hätten wohl Probleme mit einem Lebensstil zu dem u.a. gehört, sich verantwortungslos von einem ebenso verantwortungslosen Macho schwängern zu lassen. Westliche Werte und Freiheit bleiben hier wie so oft inhaltsleer und reduzieren sich auf die Einstellung „ich mache was ich will“. Darüber hinaus wird, was die Geschichte Maryams betrifft, deutlich, dass dieser Lebenswandel vor allem der Versuch ist, die Aufmerksamkeit ihres Vaters, des Imams, auf sich zu ziehen. Dieser hat zwar für alle Probleme seiner Gemeindemitglieder ein offenes Ohr, zu seiner Tochter findet er aber keinen Zugang. Es geht also weniger um einen Konflikt zwischen zwei Wertesystemen, als um den zwischen zwei Generationen, genauer einen Vater-Tochter-Konflikt, der durch den Tod der Mutter offenbar ausgelöst oder verschärft wurde.
In der Wandlung zur religiösen Eiferin liegt daher eine gewisse Kontinuität, Maryam verfällt eigentlich nur in ein anderes Extrem, und diesmal eins, dass sie in das Gebiet ihres Vaters bringt, wo sie seine Stellung angreift. Auf diese Weise hat er gar keine Möglichkeit, als sie anzuhören und auf sie einzugehen.
Die Strategie, wenn es denn eine ist, geht auf und am Ende steht die Versöhnung mit dem Vater, als dieser endlich erkennt, wie es um seine Tochter steht. Nach der Versöhnung mit ihrem Vater kann sie sich dann auch mit ihrer Abtreibung aussöhnen und nimmt Abschied von ihrem Kind.

Der Polizist Ismael hat ein Problem mit seiner Vergangenheit und versucht einen Fehler, den er sich nicht verzeihen kann, zu büßen. Er will Sühne leisten, obwohl es, wie sich herausstellt, ein Unfall war, und glaubt offenbar er müsse seine eigene Familie zerstören, weil er eine andere Familie zerstört hat. Er richtet in seiner eigenen Familie Zerstörung an, weil er Leilas Welt ‚heile‘ machen will, wie das Motiv des zusammengeklebten Tellers etwas plakativ deutlich machen soll. Erst nachdem er erfährt, dass der Tod ihres ungeborenen Kindes für Leila ein Glück war und sein Opfer damit sinnlos ist, kann er mit dieser Geschichte abschließen. Auch der missglückte Versuch, sich selbst zu erschießen, verweist auf die Sinnlosigkeit dieses Opfers. Er lernt also eigentlich nicht, seine Schuld anzunehmen, sondern erfährt, dass sie keine war. Die Schuld, die darin liegen könnte, dass er seine eigene Familie verlassen hat, wird dann nicht mehr thematisiert.

Samir (Sammi) kann seine Homosexualität mit seiner Religion nicht vereinbaren, und löst diesen tragischen Konflikt durch Verzicht. Eine Versöhnung seiner persönlichen Wünsche und seiner Religion ist ihm nicht möglich. Auch der Versuch, seinem Freund seine Situation verständlich zu machen, scheitert: Wenn Sammi ihm sagt, dass seine Religion ihm diese Beziehung nicht erlaubt, antwortet Daniel auf einer ganz anderen Ebene, „Es hat Dir doch auch gefallen“. Für Sammi geht es hier nicht um die Frage, ob es ihm gefällt, sondern ob es Gott gefällt.
Auch die Szene der versuchten Zwangskonversion, erklärt sich aus dem verzweifelten Bemühen, dem Freund den Konflikt zu verdeutlichen: Was für den dabeistehenden Sinan ein Machtspielchen ist, ist für Sammi der Versuch, Verständnis zu erzwingen: Wenn Daniel nur Muslim wäre, würde er seine Situation verstehen- so glaubt Sammi. Der Versuch muss natürlich scheitern und zu der Tragik, dass er seine Liebe zu Daniel nicht leben kann, kommt hinzu, dass dieser seine Entscheidung nicht nachvollziehen kann, und sich verraten fühlen muss.

Welche Rolle spielt der Islam in diesen Geschichten?

Maryams
Hinwendung zur Religion ist wahnhaft, es wird auch die Möglichkeit angedeutet, dass dieser Wahn vor allem durch Medikamente induziert ist. Es werden einige Fragen angesprochen, vor allem die nach dem Gottesbild. Aber in ihrem Zustand kann es keine wirkliche Auseinandersetzung über solche Fragen, und daher eigentlich auch keine „Entscheidung für einen Weg“ – so lautet die Übersetzung oder Definition des Regisseurs für Shahada (Glaubensbekenntnis). Man vermutet am Ende, dass sie ihr Leben in der Zukunft etwas verantwortungsbewusster angehen wird, aber weniger, weil ihre Religion ihr das empfiehlt, sondern weil sie nicht länger ihren Vater auf sich aufmerksam machen muss. Wie ihre religiöse Entwicklung weitergeht, bleibt offen. Die Versöhnung, die am Ende stattfindet, ist eine zwischen Tochter und Vater, weniger eine Aussöhnung mit ihrem Glauben oder mit Gott. Es sei denn man liest die Geschichte christlich und denkt bei Vater an Gott. Tatsächlich ist Maryams Geschichte ebenso stark christlich wie muslimisch konnotiert: In Maryams Wahnideen und Halluzinationen spielen Motive der Apokalypse, also der Offenbarung des Johannes, eine zentrale Rolle, und zwar die Öffnung des siebten Siegels in der Siegelvision (Offenbarung, Kap. 8 und 9): Zu den Ereignissen, die stattfinden nachdem die sieben Engel in die sieben Posaunen blasen, gehört der Hagel, die Vermischung von Blut und Meer (Wasser), Sterne die vom Himmel fallen und die Heuschrecken. Nur ein Motiv erscheint auch im Koran als apokalyptisches: die Sterne: (77:8; „Wenn die Sterne verlöschen“ 81:2, „wenn die Sterne ihre Glanz verlieren“ 82:2 „wenn die Sterne sich zerstreuen“). Die anderen Motive kommen im Koran zwar vor, aber nicht im Zusammenhang mit der Apokalypse. (Hagel wird im Koran erwähnt, 24:43, als von Gott verursachtes Naturphänomen; Blut und Heuschrecken werden als Plagen, die Gott über die Ägypter kommen ließ (7:133) erwähnt und Heuschrecken dienen noch als Vergleich für die Sünder, die nach der Auferstehung aus ihren Gräbern kommen (54:7), das ist also schon ein eschatologisches und kein apokalyptisches Motiv mehr.)
Maryams religiöser Wahn nimmt also mehr christliche Motive als islamische auf, und wie an anderer Stelle deutlich wird, als sie in die falsche Richtung beten will, scheint sie generell nicht viel über den Islam zu wissen, obwohl ihr Vater ja Imam ist. Gleichzeitig ist sie jedoch in der Lage aus dem Stand auf Arabisch aus dem Koran zu rezitieren, was einen uneinheitlichen Eindruck hinterlässt.
Die Fragen, die in ihrer Geschichte angesprochen werden, sind jedenfalls große religiöse Fragen: Ist Gott ein strafender oder ein barmherziger Gott? Was bedeutet Umkehr? Die Aussöhnung mit dem Vater, der vom barmherzigen und vergebenden Gott überzeugt ist, deutet darauf hin, dass auch Maryam diese Vorstellung annehmen kann.
Diese Geschichte hätte mehr Potential geboten, denn tatsächlich gibt es viele muslimische Jugendliche, die den Islam neu für sich entdecken (im christlichen Sinne würde man „Wiedergeborene“ sagen), und einige davon driften auch in eine sehr rigide Form des Islams ab. Damit ist noch gar nicht Gewalt oder gar Terrorismus angesprochen, sondern eine Interpretation des Islams, die sich vor allem mit der Unterscheidung von erlaubt und verboten (halal und haram) beschäftigt.

In der Geschichte des Polizisten Ismael ist die Funktion des Islams noch weniger zu fassen, zumal er sich offenbar vom Islam abgewendet hat, wie er im Gespräch mit Leila in der Moschee andeutet. Ismael ist der einzige, der als vollständig integriert erscheint – er hat eine deutsche Frau, einen Beruf in dem Migranten ansonsten noch unterrepräsentiert sind, während selbst Maryam, die ja so ‚westlich‘ lebt, vor allem mit türkischstämmigen Menschen zu tun hat (ihr Ex-Freund, ihre beste Freundin, die Krankenschwester, die ihr die Abtreibungspillen gegeben hat – alle sind türkischstämmig). Das gibt zu denken, denn es erscheint so, als sei die Aufgabe des Islams der Preis für die gelungene Integration.
Das Thema dieser Episode „Schuld und Sühne“ ist wieder stark christlich konnotiert, was durch das christliche Gebet, dass Ismaels Sohn am Ende spricht, nochmal unterstrichen wird. Ismael will sein Leben hingeben, um seine Schuld zu tilgen – quasi der christliche Erlösungsgedanke ohne Stellvertretung, aber auch ohne Perspektive auf das Jenseits.

Den Begriff der Schuld (dain) gibt es im Arabischen nur im ökonomischen Sinn, nicht im religiösen. Verwendete Begriffe im religiösen Bereich sind Fehltritt (khatî’a), Sünde (ma’siya, dhanb), Verfehlung (ithm) usw. Sünden werden durch Reue und Wiedergutmachung (wenn sie denn möglich ist) ausgelöscht. Ganz allgemein gilt der Grundsatz, dass man der schlechten Tat eine gute folgen lassen soll, entsprechend der Aufforderung im Koran: „Die guten Werke vertreiben die schlechten. Das ist ein Rat für die Nachdenkenden.“ (11:115) Ansonsten ist das Konzept der Sühne (kaffâra) eng eingegrenzt: Es gibt spezielle Sühnevorschriften für bestimmte Fälle, und das sind neben rituellen Fehlern bei der Pilgerfahrt oder beim Fasten vor allem der Eidbruch. Doch all das würde für Ismael nach islamischem Verständnis ohnehin keine Rolle spielen, denn sein Fehler war ein Versehen, ohne Vorsatz und ohne Absicht. Dafür gilt im Islam nach einem Ausspruch des Propheten der Grundsatz, dass der Mensch nicht zur Verantwortung gezogen wird, für das, was er aus Versehen, aus Vergessen und unter Zwang tut. Dazu kommt, dass es nach dem islamischen Verständnis von Reue und Wiedergutmachung (wenn er denn tatsächlich etwas zu bereuen hätte) auf keinen Fall ein Fehler mit einem weiteren Fehler (die Familie zu verlassen und Ehebruch zu begehen) ausgelöscht werden kann.
Diese Geschichte kommt also eigentlich ganz ohne Islam aus und der Polizist hätte genauso gut Phillip oder Felix heißen können. Mit Ismael hat der Regisseur aber einen Namen gewählt, der auf das verhinderte oder abgewehrte Sohnesopfer im Koran anspielt. Im Koran wird der Sohn, den Abraham bereit ist zu opfern, nicht namentlich genannt, aber die muslimischen Exegeten gehen mehrheitlich davon aus, dass es sich nicht um Isaak, sondern um den erstgeborenen Ismael handelt. (Und um diesen Bezug noch stärker zu machen, heißt Ismaels Frau Sarah.)

Die Geschichte Sammis behandelt am ehesten eine islamspezifisches Problem, auch wenn Homosexualität natürlich ebenso in anderen Religion, allen voran im Katholizismus ein Tabu darstellt. Hier ist ein Konflikt zwischen den Vorgaben des Islams und seinen persönlichen Sehnsüchten am klarsten. Sammi ist auch als einzige Hauptfigur ein praktizierender Muslim, er betet, fastet und besucht regelmäßig die Moschee. Er nimmt seine Religion sehr ernst, was schon deutlich wird, dass er sich mit seinen Fragen an den Imam wendet. Dieser erteilt ihm zwar – christlich gesprochen – die Absolution („In den Augen Gottes sind alle Arten der Liebe gut“) die jedoch halbherzig ausfällt, weil er dies nicht als Imam, sondern als Freund zu Sammi sagt, er nimmt zuvor seine Gebetsmütze ab. Mit seiner unorthodoxen Interpretation kann er Sammi denn auch nicht überzeugen, dessen Islamverständnis lässt diese Interpretation nicht zu. Tatsächlich wird es wohl keinen Imam geben, der gelebte Homosexualität nicht für Sünde hält, weder in Deutschland noch woanders. Möglicherweise sucht Sammi auch so etwas wie Heilung von seiner Homosexualität, seine Mutter scheint jedenfalls zu denken, dass das möglich sei – aber Wunder dieser Art gibt es natürlich nicht. Im Konflikt zwischen der Liebe zu seinem Freund und dem Gehorsam gegenüber Gott, entscheidet er sich für letzteres.
Von dieser Geschichte lässt sich auch am ehesten sagen, dass das islamische Konzept des Heils eine Rolle spielt. Wie erwähnt, ist der Begriff des „Heils“ im geläufigen theologischen Sinne im Islam nicht vorhanden, das arabische Wort, das die Christen für Heil verwenden, spielt im Islam keine Rolle (khalâs). Verwandte Begriffe sind z.B. „Frieden“ (salâm), und „Glückseligkeit“ (sa’ada). Am wichtigsten ist der Begriff „Erfolg“ (fauz, falâh). Erfolgreich sind diejenigen, die ihre Fehler bereuen, glauben und gute Werke tut (28:67) die nach „Gottes Antlitz“, wie es heißt, also nach dem Zusammentreffen mit Gott im Jenseits streben (30:38) und so Gottes Zufriedenheit erlangen. Im Unterschied zum christlichen Konzept des Heils gibt es insbesondere keine Heilsgeschichte. Es gibt also keine Erlösung durch ein bestimmtes Ereignis, sondern die Vergebung der Sünden erfolgt von Fall zu Fall.
An den Stellen, an denen im Koran der „Erfolg“ erwähnt wird, geht es zumeist um das Jenseits. Und in Sammis Geschichte scheint mir als einziger die Dimension des Jenseits angesprochen oder zumindest angedeutet zu sein. Ismael wird von dem Wunsch getrieben, seinen Fehler im Diesseits wieder gut zu machen und in Maryams Geschichte geht es um eine diesseitige Versöhnung mit dem Vater - auch ihre apokalyptischen Visionen sind eher ein Strafgericht, das in dieser Welt stattfindet und zielen nicht auf das Jenseits. Demgegenüber scheint bei Sammi der Gedanke an das Jenseits eine Rolle zu spielen – auch wenn er das nicht explizit macht. Der Wunsch nach Gottes Zufriedenheit, die die Voraussetzung für den Eingang in das Paradies und damit das Zusammentreffen mit Gott ist, kann bei einem Gläubigen dazu führen, dass er im Diesseits auf die Erfüllung seiner größten Wünsche verzichtet, wenn er nämlich der Meinung ist, dass diese nicht Gottes Wohlgefallen finden. Ob für Sammi diese Motivation eine Rolle spielt, ob er einfach Angst vor jenseitiger Strafe oder vor der Verachtung seiner Umwelt hat, wird nicht klar, aber deutlich ist jedenfalls, dass es für ihn etwas Wichtigeres gibt, als die Liebe zu einem Menschen im Diesseits. Es geht hier um eine homosexuelle Liebe, aber das Thema lässt sich verallgemeinern auf jede Art der verbotenen oder unmöglichen Liebe. Dies ist ein Punkt, der wohl für einen nicht-religiösen Menschen kaum nachzuvollziehen ist, und hier schafft es der Film auch nicht, diese Motivation deutlich zu machen. Es überrascht daher nicht, wenn ein Kritiker schreibt: „Wer wie der Verfasser dieser Zeilen über eher schwach ausgeprägte religiöse Gefühle - gleich welcher Ausrichtung - verfügt, steht den dargestellten Konflikten und Problemen gleichbleibend ratlos gegenüber und fragt sich nach dem Betrachten dieses Films lediglich ein weiteres Mal, ob das Leben ohne den Glauben und die religiösen Systeme, ohne die Götter und das ganze Drumherum nicht generell einfacher wäre“.
[2]

Zu fragen, welche Rolle in dem Film religiöse Konzepte wie Heil (bzw. Erfolg) und Schuld, bzw. Sünde spielen, und inwieweit diese mit den islamischen religiösen Konzepten übereinstimmen, hätte ich bei einem anderen Film wahrscheinlich gar nicht gemacht. Es ist eigentlich nicht der Sinn, bei einem Gespräch über einen Film, in dem Muslime auftreten, danach zu fragen, ob hier religiöse Lehren des Islams korrekt wiedergegeben werden. Dieser Film fordert das aber geradezu heraus. Der Regisseur selbst hat in mehreren Interviews betont, dass es nicht um den Islam gehe, sondern um „universelle Geschichten für Menschen jeden Glaubens. Themen wie Generationenkonflikte, verbotene Liebe und Schuld und Sühne sind nicht zwangsläufig an den Islam gebunden.“
[3] Damit hat er recht, aber das wirft zugleich die Frage auf, warum dann der Islam, ich möchte mal sagen, auf den Film so dick aufgetragen ist. Gleich der Titel verweist ja auf das islamische Glaubensbekenntnis, die Schahada – vom Regisseur übersetzt mit „Entscheidung für einen Weg“. Dann gibt es fünf Kapitel, die jeweils mit einer Säule des Islams überschrieben werden, die aber jeweils für etwas Allgemeineres stehen (Hadsch (Pilgerfahrt) für Reise/Weg, Salat (Gebet) für Hingabe, (Saum) Fasten für Selbstaufgabe, und Zakat für Opfer).[4] Für den Nichtmuslim ist das kaum nachzuvollziehen, da nur die arabischen Wörter und dann die freie Übersetzung des Regisseurs angegeben wird, so dass man als Nichteingeweihter nicht weiß, um welche Säule es sich da handelt. Gerade das letzte führt aber tatsächlich in eine falsche Richtung: Die Zakat, also die verpflichtende Abgabe auf Vermögen – für den Vermögenden eine Reinigung und für den Bedürftigen ein Recht – ist kein Opfer. Als Opfer wird sie weder im Koran noch an anderer Stelle bezeichnet, und der Koran steht der Idee des Opfers ohnehin sehr kritisch gegenüber (vgl. 22:37). An solchen Stellen fragt man sich dann doch, wofür eigentlich die theologische Beratung, die im Abspann genannt wird, in Anspruch genommen wurde. Der Versuch, die fünf Säulen des Islams mit dem Fünfakter der antiken Dramentheorie kurzzuschließen,[5] mag zwar originell sein, aber es wird nicht klar, welcher Mehrwert daraus hervorgehen soll. Ich habe mich z.B. auch gleich zu Beginn gefragt, welche Funktion die arabische Schrift im Vorspann hat. Die erzeugt natürlich einen ästhetischen Eindruck, aber im Film gibt es nicht mal eine arabische Figur. Es gibt also eine Spannung zwischen den tatsächlich universellen Geschichten und der islamischen Codierung und zwar eine, die das Ganze nicht spannend, sondern unverständlich macht. Meiner Meinung nach hätte es dem Film gut getan, er hätte auf solche expliziten religiösen Bezugnahmen verzichtet und dafür die Figuren etwas mehr entwickelt.

Man kann jetzt davon ausgehen, dass explizite Verweise auf den Islam für potentielle Filmförderer besonders interessant sind, weil sie sich von einem solchen Film einen exklusiven Blick in das Paralleluniversum der Muslime in Deutschland versprechen. (So erhielt etwa der Film „Die Fremde“ (2010), ein Film über Ehrenmord und Zwangsheirat 250 000 Euro aus der deutschen Filmförderung). In der Pressemappe zum Film (hier noch unter dem Arbeitstitel „Himmelsleiter“, der Name der 70. Sure des Korans) wird zudem recht reißerisch auf „Huntingtons kulturellen Clash“ verwiesen, der in Berlin jeden Tag stattfinde.
[6] Aber wenn man mal darüber hinaus die religiöse Sprache tatsächlich ernst nimmt, kommt man zu einem überraschenden Ergebnis: Die Muslime in Qurbanis Film sind so weit integriert, dass ihnen christliche Theologeme und Motive sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen sind, so dass sich ihnen als erstes die biblische Apokalypse aufdrängt, wenn sie in einen religiösen Wahn verfallen.
Bei der Filmvorführung in Neukölln habe ich Burhan Qurbani danach gefragt, warum er einem Film über Muslime das Thema Schuld und Sühne so stark macht. Er verwies darauf, dass er in einer katholischen Kleinstadt in Baden-Württemberg aufgewachsen und ein „europäisch-asiatischer Bastard“ sei. Die Vermischung der Kulturen, die er damit anspricht gilt eben nicht nur für ihn, sondern auch für seine Figuren. Das ist ein geschickter Zug, der auch den sicherlich von vielen Zuschauern erhofften Blick in das muslimische Paralleluniversum ironisch enttäuscht – falls diesen das vor lauter Verschlüsselung überhaupt auffällt. (Und auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass sich eine türkischstämmige Schülerin so gut in der Bibel auskennt, wie es nicht einmal die ‚biodeutschen‘ Schüler tun.)

Überhaupt muss man Qurbani zu Gute halten, dass sein Film, der zweifellos einige Klischees transportiert, für die er auch viel kritisiert wurde
[7] – ansonsten Klischees geschickt vermieden hat: Maryam flüchtet sich nicht unter die Burka, es gibt keine Zwangsheirat und keinen Ehrenmord. Wie der Regisseur berichtete, wollte er in einer früheren Konzeption des Films alle diese Geschichten unterbringen, also die Zwangsheirat, den Ehrenmord plus den obligatorischen Selbstmordattentäter. Das hat er zum Glück unterlassen und der Zuschauer ist ohnehin mit den drei Geschichten im Film mehr als ausgelastet.

Es handelt sich bei dem Film um ein Drama, in dem Personen in extremen Situationen gezeigt werden, nicht um eine Dokumentation über muslimisches Leben in Deutschland. Darauf hat Qurbani selbst wiederholt hingewiesen, dennoch scheint sein Film von vielen Kritikern so gelesen worden zu sein: Eine Kritikerin schrieb z.B., der Film vermittele den Eindruck „Moslem in Deutschland zu sein, bedeutet Dauerausnahmezustand - immer Stress, immer Blut“.
[8] Das ist natürlich eine zugespitze Kritik an einem zugespitzen Film, aber man hätte sich tatsächlich gewünscht, dass neben den ganzen Problemen, die die Personen mit ihrer Religion haben, auch angedeutet werden würde, was die Religion ihnen gibt. Selbst in den Diskussionen in der Moschee geht es vor allem darum, welche Probleme der Islam im alltäglichen Leben macht. Gründe für den Islam vermittelt am ehesten der Imam, der jedoch so betont tolerant und weltoffen ist, dass er auch schon wieder ins Klischee verfällt. Offenbar kommt er damit auch weder bei seiner Tochter, die ihm ein weichgespültes Islamverständnis vorwirft, noch bei Sammi an. Insofern bleibt er lebensfern und ist auch nicht wirklich ein positives Gegengewicht gegenüber den problembeladenen Hauptfiguren. Man würde gerne wissen, warum sie denn Muslime sind und wenigstens zum Teil auch bleiben wollen. Ist das nur eine Frage der Identität, der Herkunft, der elterlichen Erziehung und des kulturellen Erbes, das man nun mal nicht abschütteln kann, sondern mit dem man sich arrangieren muss, oder gibt es auch Gründe – gerade weil Shahada ja das Bekenntnis anspricht und vom Regisseur als „Entscheidung für einen Weg“ interpretiert wird.
Noch eine letzte Bemerkung: In der Pressemappe zum Film heißt es: „Die letzte Erkenntnis von „Die Himmelsleiter“ ist: Gott hilft nicht. Der Mensch hilft!“
[9] Das ist nun eine Erkenntnis, der ein gläubiger Mensch gewiss nicht zustimmen kann.

 

[1] http://www.bz-berlin.de/kultur/berlinale2010/shahada-aus-berlin-ist -festivalfavorit-article738834.html

[2] www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2010/021 8/berlinale/0038/index.html

[3] www.philibuster.de/themen/stroemungen/burhan-qurbani-neugier-ist -der-erste-schritt-zur-integration.html

[4] Im Film wird Salat (Gebet) mit ‚Z‘ (‚Zalat‘) und Zakat (Abgabe) mit ‚S‘ (‚Sakat‘) geschrieben. Dafür, dass vom Regisseur eigens eine theologische Beratung eingeholt  wurde, ist das ein ziemlich peinlicher Fehler.

[5] Auf diese verwies Burhan Qurbani auf Nachfrage der Autorin zur Bedeutung der Ueberschriften.

[6] Die Himmelsleiter, S. 6, http://blog.derbraunemob.info/wp-content/uploads/2008/07/himmels leiter-pressemappe.pdf

[7] Schon im Vorfeld wurde Kritik an der Konzeption der Nigerianer im Film geübt: http://blog.derbraunemob.info/2008/07/22/zdf-nichts-aus-studie-gel ernt/

[8] www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,677394-4,00.html

[9] Die Himmelsleiter, S. 7, http://blog.derbraunemob.info/wp-content/uploads/2008/07/himmels leiter-pressemappe.pdf
 

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