al-sakina ist online seit dem 24.03.02

 

 

Wer über neue Beiträge in al-sakina informiert werden möchte, kann hier den Newsletter bestellen

 

 

Sie möchten
al-sakina unterstützen?
Hier ist ein Logo zum Einbinden auf Ihrer Website:

 


250.000
BesucherInnen
 in vier Jahren,
seit März 2006:

 

 

ARTIKEL:

 

Projektions-
fläche Islam

 

Islam in den Medien

 

Der Islam in Deutschland

 

Die Barmherzigkeit Gottes im Islam

 

Die Liebe Allahs zu Seinen Dienern

 

Verantwortung für die Schöpfung

Deutsches Bewusstsein?

Kopftuchtragen in Zeiten des “Kopftuchstreits” und Terrorwahns
 


Berlin, Sonntagnachmittag, der 30. November. Es ist der erste Advent. Der Bus 148 fährt Richtung Kurfürstenstraße, es ist ein Doppeldecker, ich sitze in der oberen Etage. Hinter mir ein Pärchen, die beiden unterhalten sich über einen Nähkurs, den sie gemeinsam besuchen. Das Problem mit dem Unterfaden habe er ja souverän gelöst, sagt sie. "Sympathisch", denke ich beiläufig, "ein Mann, der näht."

Plötzlich glaube ich in einer unvermittelten Bemerkung der Frau eine Anspielung auf mein Kopftuch verstanden zu haben. Mit derartigem ist in der letzten Zeit zu rechen. Das Kopftuch-Urteil ist gerade zwei Monate alt, die Medien sind voll von Berichten über Muslime im Allgemeinen und muslimische Frauen im Besonderen, fast kein Tag vergeht, ohne dass ein Politiker, eine Publizistin oder ein Kirchenmann verkündet, was das Kopftuch bedeutet: "Symbol einer mangelnden Gleichstellung von Frauen und Männern", Ausdruck einer "fundamentalistischen Grundhaltung", "Distanzierung von der Wertordnung des Grundgesetzes", "bäuerliche Tradition", "antidemokratisches Zeichen" - bis hin zum "blutigen Symbol der Gottesstaatler".

Ich höre also genauer hin.
Der Mann sagt halblaut: "Scheiß-Islamisten."
Ich drehe mich um, schaue ihn an. Er sieht eigentlich ganz normal aus, etwa Ende dreißig, braune Haare, ebensolche Augen. "Wenn Sie etwas sagen wollen, dann sagen Sie es laut!" fordere ich ihn auf und ernte einen verblüfften Blick. Er hatte wohl weder damit gerechnet, dass ich überhaupt reagiere, noch dass ich zur Bildung eines grammatisch korrekten Konditionalsatzes fähig bin. Dann hat er die Schrecksekunde überwunden: Ich würde doch sehen, was in diesen Ländern passiert, der Fundamentalismus... die Bomben... die Kopftücher, die mit Nägeln eingeschlagen werden... (Sieh mal einer an, der Mann näht nicht nur, der liest auch feministische Artikel!) Die Attentate, der Terror - das sei doch schrecklich! Worin ich ihm natürlich nur zustimmen kann: "Da bin ich ganz ihrer Meinung!" Wieder dieser verblüffte Blick, keine Antwort.

Ich frage ihn, was ich mit all dem zu tun habe. "Sie sind doch auch eine von denen, fanatisch!" "Woher wissen Sie das?" Diese Frage war natürlich völlig überflüssig: Das Kopftuch, es hatte mich schon längst verraten.

In einem angesichts der mir entgegenschlagenden Ignoranz zum Scheitern verurteilten Versuch, den Unterschied zwischen Islam und Fanatismus, zwischen einer Religion und denen, die sich als ihre Anhänger bezeichnen, anzudeuten, frage ich: "Denken denn alle das gleiche, die sich den gleichen Namen geben? Sind etwa alle Christen für Bush's Kriege verantwortlich?" Wieder keine Antwort. Mittlerweile haben sich zwei arabisch aussehende Mädchen eingemischt, die zwei Bänke weiter vorne sitzen. Lautstark werfen sie dem Paar vor, zuviel Fernsehen zu schauen und zu dumm zum Selbstdenken zu sein. Die beiden hat der Himmel geschickt, besser hätte ich es auch nicht sagen können.

Der Frau wird es zu viel. "Denen ist wohl die Schminke ins Gehirn gekrochen." Die Mädchen haben zum Glück nichts gehört, und ich drehe mich mit dem Hinweis, dass ich mich auf dieses Niveau dann doch nicht einlassen will, wieder um - und ignoriere das "Schätzchen!", das mir die Frau noch hinterher zischt.

Das Paar gibt keine Ruhe. Sie spekulieren nun, warum die beiden Mädchen kein Kopftuch tragen. "Die trauen sich wohl nicht", vermutet der Mann. (Ganz so dumm sind sie also doch nicht, ohne Kopftuch wäre mir das hier wohl auch erspart geblieben.) Nachdem die beiden Mädchen ausgestiegen sind - nicht ohne die lautstarke Aufforderung, den Fernseher mal abzuschalten und sich ein eigenes Bild zu machen - lässt das Paar seinem Hass gegen Ausländer und Muslime freien Lauf: Die sollen dahin gehen, wo sie her gekommen sind, die Araber nutzen unsere Universitäten und wir zahlen die Steuern dafür, lernen tun sie trotzdem nichts ...

Ich muss mich also doch wieder umdrehen und werfe ihnen Rassismus vor - mit der Folge, dass die Frau anfängt, mir meine psychologische Verfassung zu erläutern: Als Muslimin würde ich mich den anderen überlegen fühlen. Ich sei nicht offen. Ich könne nicht differenzieren (sic!). Und außerdem hätte ich keinen Kontakt zu Deutschen. Das ist nun für mich als Deutsche ziemlich unmöglich, aber auch dieses unwesentliche Detail ändert für sie am Sachverhalt gar nichts: "Deutsch dem Pass nach, aber nicht im Bewusstsein!" Der Satz gefällt ihr so gut, dass sie ihn gleich noch mal wiederholt.
Das muss ich genauer wissen: "Ach ja. Dann erklären Sie mir doch mal: Was ist das deutsche Bewusstsein?" Irritation. Die Frage ist ganz offensichtlich zu schwierig, denn sie weicht meinem Blick aus und überlässt nach zwei unverständlichen Halbsätzen die Antwort ihrem Begleiter. Für ihn ist das Hauptmerkmal des deutschen Bewusstseins ... seine Abwesenheit: "Es gibt zu wenig deutsches Bewusstsein." Das sei der Unterschied zu mir, ich hätte ein islamistisches Bewusstsein. Die Frage, worin dieses bestehe, verweist er an mich zurück: "Das müssen Sie ja besser wissen."

Es wird Zeit, die Diskussion zu beenden. "Ich hatte nicht geglaubt, dass es Leute wie Sie noch gibt", sage ich und drehe mich wieder um. "Davon gibt es mehr als Sie denken!", gibt er zurück. "Das befürchte ich allerdings auch!"

Ich muss nun aussteigen. Gerade rechtzeitig fallen der Frau doch noch zwei Merkmale des deutschen Bewusstseins ein. Nachdem sie lange und tief genug in ihrem aus Talkshows und einschlägigen Nachrichtenmagazinen gewonnenem Wissensschatz gegraben hat, hat sie ihn schließlich gefunden: den großen, vielbeschworenen Unterschied zwischen fortschrittlichem Westen und fanatischem Islam, zwischen Aufgeklärten und Muslimen, zwischen sich und den Anderen. Ganz flüssig gehen ihr die Worte allerdings nicht über die Lippen, fast als ob sie Fremdwörter benutze: "Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter".

Ich muss an mich halten, um nicht laut zu lachen. Demokratie!? Nach allem was sie gesagt haben? Hat Demokratie nicht etwas mit der Akzeptanz von Unterschieden, mit Pluralismus und Toleranz zu tun? (Was die Gleichberechtigung betrifft mag es bei den beiden ja besser aussehen - immerhin näht der Mann.) Auf dem Weg zur Treppe sage ich nur noch: "Diese beiden Dinge unterstütze ich sehr. Aber das passt ja nicht in ihr Bild!"

In den letzten Tagen habe ich an dieses Erlebnis oft denken müssen.
Manchmal bin ich eher amüsiert. Die Frage nach dem deutschen Bewusstsein... Hätte ich ihnen erzählen sollen, dass ich gerade meine Abschlussarbeit über Lessing, den "Begründer der deutschen Nationalliteratur", abgegeben habe? Dass Lessing sich in mehreren Schriften mit den Vorurteilen des 18. Jahrhunderts gegenüber dem Islam auseinander setzte, sich in "Nathan der Weise" für Toleranz und Respekt gegenüber allen Religionen ausgesprochen hat? Wahrscheinlich hätten sie nichts verstanden oder auch Lessing das fehlende "deutsche Bewusstsein" attestiert. Was ist das "deutsche Bewusstsein" und wem fehlt es? Mir, der muslimischen deutschen Germanistikstudentin, oder denen, die die Ausländer dahin schicken wollen, "wo sie her gekommen sind"?

Manchmal bin ich eher beunruhigt. Mir war klar, dass die aktuelle Berichterstattung die Einstellung der Menschen in Deutschland zum Islam negativ beeinflusst, aber diese fast wörtliche Wiedergabe der von den Medien vermittelten Klischees und Vorurteile übertrifft alle Befürchtungen.

Und manchmal wird mir kalt. In öffentlichen Verkehrsmitteln schaue ich mir die Leute genauer an, bevor ich mich irgendwo hinsetze. Im Zweifelsfall bleibe ich lieber stehen. Wenn ich in der letzten Zeit mit Muslimen über das Thema Integration spreche, höre ich immer öfter den Satz: "Die wollen uns eben nicht!" Meist versuche ich dann zu vermitteln, berichte von positiven Erfahrungen an der Universität und am Arbeitsplatz, warne vor undifferenzierten Pauschalurteilen...
Erlebnisse wie diese rauben mir dafür die Kraft und die Argumente. Was ist das für ein Klima, in dem Menschen keine Hemmungen haben, in der Öffentlichkeit jemanden zu beschimpfen, weil sie ihn oder sie als Angehörige einer bestimmten Religion erkannt haben? Was passiert, wenn solche Menschen die letzten Hemmschwellen hinter sich lassen können, weil niemand ihnen widerspricht, weil sie vielmehr ihre irrationalen Bedrohungsszenarien von PolitikerInnen, Kirchenvertretern und Medien bestätigt sehen? Was, wenn sie ihrem Hass dann nicht nur in Worten, sondern auch in Taten Ausdruck verleihen? Oder sind wir schon bald soweit?

Die umsitzenden deutschen Fahrgäste blickten betreten zu Seite. Niemand hat ein Wort gesagt.


Zum Thema:
Das Tuch in den Köpfen
Dossier Kopftuch

nach oben
zurück
 

[home] [inhalt] [artikel] [bibliothek] [literatur] [galerie] [impressum]

Im Namen Allahs des Erbarmers, des Barmherzigen

 

Homepage von Silvia Horsch
zur Person >>
 


Der Islam - eine europäische Tradition

 

Glaube, Vernunft, Gewalt
Gedanken zur Papstrede

 

Offener Brief an den Papst
von 38 islamischen Gelehrten

 

Frauen im Islam

 

 

Lessing, Islam und Toleranz

 

 

Die Propheten im Koran

 

 

Kopftuchtragen in Zeiten des Terrorwahns

 

 

Leben und Werk von al-Ghazali

 

 

Rezitation der Fatiha

(erste Sure des Koran)

 

Literaturtip!
Muslimsein in Europa
In diesem Buch gibt
Tariq Ramadan
Antwort auf eine grundlegende Frage:
Kann es einen europäischen Islam geben?
>>

 

wer al-sakina unterstützen will, kann dieses Logo einbinden: