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Lessing, der Islam und die Toleranz

Vortrag auf dem Studientag: „Toleranz – ein brauchbarer Begriff im interreligiösen Dialog?“ in der Evangelischen Akademie Arnoldshain am 28. September 2004 von Silvia Horsch

 

im November 2004 erschienen:
Silvia Horsch:
Rationalität und Toleranz.
Lessings Auseinandersetzung mit dem Islam >>


im Januar 2006 erschienen:
 

1/2 (al-Quds al-arabi)



I Lessing und der Islam – ein aktuelles Thema

II Lessing und das Islambild der Aufklärung

III Der Islam als vernünftige Religion

IV Die Rolle des Islam in der Toleranzdebatte

V Nathan der Weise und die Ringparabel

VI Nathan der Weise im 21. Jahrhundert

 



I Lessing und der Islam – ein aktuelles Thema

Dass der Islam in der Toleranzdebatte des 18. Jahrhunderts überhaupt eine Rolle gespielt hat, ist vor allem Lessings Verdienst: Vor Lessing habe man, so schreibt Moses Mendelssohn an „Heiden, Juden, Mahometaner und Anhänger der natürlichen Religion [...] entweder gar nicht oder höchstens in der Absicht gedacht, um die Gründe für die Toleranz problematischer zu machen.“ Die Toleranzthematik gehört zu den meistbehandelten Aspekten des Lessingschen Werks, seine Auseinandersetzung mit dem Islam blieb allerdings weitgehend unberücksichtigt.

Dies hat sich spätestens im Januar 2004 geändert, als der damalige Bundespräsident Johannes Rau in Wolfenbüttel anlässlich des Geburtstages Lessings über das Verhältnis von Staat und Religion gesprochen hat und dabei auch auf den „Kopftuchstreit“ Bezug nahm. Am gleichen Ort sprach wenige Wochen später Jutta Limbach, ehemalige Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, in der Reihe „Aufklärung im 21. Jahrhundert“ über das „Gebot der Toleranz“. Auch in dieser Rede ging es um den Umgang mit der muslimischen Minderheit in Deutschland. Die Erinnerung an Lessing verbindet sich auf diese Weise mit höchst aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragen: Welche Bedeutung hat Toleranz in einer pluralistischen Gesellschaft? Wird die Auseinandersetzung mit der muslimischen Minderheit zur Festschreibung von als verbindlich verstandenen „abendländischen“ Werten genutzt oder als Chance gesehen, den Anspruch einer sich als offen und pluralistisch verstehenden Gesellschaft in die Realität umzusetzen?

Vor diesem Hintergrund ist die Auseinandersetzung mit Lessings Verhältnis zum Islam auch ein hilfreicher Beitrag zu einer aktuellen gesellschaftlichen Debatte. Dabei ist die Absicht natürlich nicht, Lessing in einer Weise zu „aktualisieren“, welche die tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zwischen dem 18. und dem 21. Jahrhundert ignoriert. Das Islambild eines Aufklärers wie Lessing ist für uns jedoch von Bedeutung, weil der Begriff „Aufklärung“ häufig benutzt wird, um einen Gegensatz zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“ zu betonen. Dabei ist die Begriffsverwendung oft sehr unscharf: Selten wird reflektiert, dass „Aufklärung“ eine Epoche der europäischen Geistesgeschichte bezeichnet, deren spezifische historische Bedingungen und Folgen sich nicht einfach auf die Verhältnisse anderer Kulturen übertragen lassen. Viel häufiger wird der Begriff in einem allgemeinen Sinne verwendet: „Aufgeklärt“ zu sein bedeutet dann, Irrationalität und Unvernunft hinter sich gelassen zu haben, sich von religiös bedingten Zwängen befreit und Fanatismus überwunden zu haben. Man trifft häufig auf die Meinung, die Europäer hätten diese Entwicklung bereits hinter sich, während andere Kulturen sie noch vor sich haben – und zwar insbesondere der Islam.

Die Untersuchung von Lessings Auseinandersetzung mit dem Islam ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, weil er sich gegen ein Islambild gewandt hat, dass vor allem durch eine spiegelbildliche Konstruktion als negatives Gegenbild zur eigenen Gesellschaft (oder zu den Idealen der eigenen Gesellschaft) entsteht. Lessing hat sich wie kein anderer deutscher Autor des 18. Jahrhunderts sowohl kulturgeschichtlich als auch theologisch auf den Islam eingelassen: Er würdigte die kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen der Muslime, nahm in seinen theologiekritischen Schriften auf den Islam Bezug und verarbeitete in seinem Drama Nathan der Weise (1779) Inhalte der islamischen Geschichte und Theologie. Ihm ging es um eine genaue Kenntnis, ein gerechtes Urteil und die Beseitigung von Vorurteilen, die eine echte Auseinandersetzung mit dem Islam als Religion und Kultur verhindern.

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II Lessing und das Islambild der Aufklärung

Um die Bedeutung von Lessings Auseinandersetzung mit dem Islam einschätzen zu können, muss man zunächst einen Blick auf das Islambild der Aufklärung werfen. Die Aufklärung begünstigte die Auseinandersetzung mit fremden Religionen und Kulturen und es entstand zum erstenmal ein echtes wissenschaftliches Interesse am Islam. Dennoch kann man nicht von einer großen Änderung in der allgemeinen Meinung sprechen. Annemarie Schimmel spricht in ihrer Einschätzung vorsichtig von einem „Wandel in der Haltung einer gewissen Gruppe von Gelehrten“. Noch kritischer beurteilt Edward Said die Entwicklung: Die säkularisierende Tendenz der Aufklärung habe die alten religiösen Muster des Mittelalters nicht einfach abgeschafft, vielmehr wurden sie „rekonstruiert, wieder angewendet; in dem säkularen Rahmen neu verteilt.“

Kontinuitäten bestehen vor allem in der Sicht auf den Islam als das Fremde. Dem Mittelalter galt der Islam als Prototyp des Fremden und des Feindes, indem er als Häresie, Heidentum oder Teufelswerk verstanden wurde. Vor dem Hintergrund des veränderten Menschenbildes der Aufklärung, das die Vernunftorientierung des Menschen in den Vordergrund rückte, machte das Bild auch des Fremden bestimmte Veränderungen durch. Tatsächlich bildete sich in der Aufklärung eine neue Kritik an den „Anderen“ heraus, „deren zentrales Thema das der vermeintlich mangelnden Vernunft ist“ (Hentges). Diese Sicht auf den Islam begegnet uns auch, wenn wir die Quellen betrachten, aus denen sich Lessing über den Islam informiert hat.
Lessing hat so gut wie alles gelesen, was damals an Literatur über den Islam greifbar war. Er konnte natürlich kein Arabisch oder Türkisch, deswegen handelte es sich vor allem um orientalistische Literatur. Dabei ist er sehr unterschiedlichen Einstellungen begegnet. Er kannte z.B. die Koranübersetzung (1734) von George Sale, einem englischen Anwalt - die erste einigermaßen verlässliche Übersetzung in eine moderne Sprache. Dieser Übersetzung ist ein langes Vorwort vorangestellt (Preliminary Discourse), in dem sich Sale zur Darstellung des Islam auch auf muslimische Quellen stützt. Gelehrte wie Sale waren darum bemüht, viele Vorurteile gegen den Islam zu widerlegen und sich sachlich mit ihm auseinander zu setzen.

Lessing hat noch viel mehr gelesen, was hier nicht alles aufgeführt werden kann (u.a. Werke von Pocock, Reland, d’Herbelot, Ockley, Gagnier, Reiske – also die bekannten Namen der damaligen Orientalistik). Ich möchte aber noch auf ein Werk eingehen, das zur Zeit Lessings weit verbreitet und ihm auch bekannt war. Das Buch wurde bereits 1697 von Humphrey Pridaux, einem englischen Geistlichen, geschrieben und trägt den Titel: The true nature of imposture fully displayed in the Life of Mahomet. Zu deutsch: „Die wahre Natur des Betruges, vollständig dargestellt (am Beispiel) des Lebens von Muhammad“. Der Islam wird im gesamten Werk schlichtweg als „der Betrug“ (the Imposture) bezeichnet und als eine Strafe Gottes für die Christen angesehen. Muhammad ist natürlich kein Prophet, sondern ein gewissenloser Machtmensch und Lüstling gewesen; die angeblichen Offenbarungen in Wahrheit epileptische Anfälle; der Islam eine Häresie usw. Im Grunde also nichts anderes, als die seit dem Mittelalter kanonisierten Vorwürfe.

Dieses Werk wurde nun auch von Aufklärern zur Information über das Leben des Propheten herangezogen: Der Philosoph Pierre Bayle empfiehlt es z.B. in einem Artikel über den Propheten Muhammad in seinem einflussreichen Historischen und kritischen Wörterbuch (Dictionnaire Critique). In seinem Artikel „Mahomet“ übernimmt er die Wertungen Prideauxs unhinterfragt und verweist zu weiteren Information über den Propheten auf dessen Buch. Der Artikel zeigt somit, dass es um die Aufklärung über den Islam in der Aufklärung nicht so gut bestellt war, wie man vielleicht erwartet hätte.

Es gab aber auch einige Autoren, die den Islam als eine besonders vernünftige Religion ansahen. Eine direkte Antwort auf Prideaux, Mahomet No Impostor, or a Defence of Mahomet, wurde anonym veröffentlicht und als Brief eines muslimischen Autors getarnt. Henry Boulainvilliers (1658-1722) La vie de Mahomet erschien erst 1730 posthum und wurde 1768 ins Deutsche übersetzt. Das Werk wurde scharf angegriffen, da Muhammad als ein göttliches Werkzeug gezeigt wird, mit dem die Erkenntnis der Einheit Gottes ausgebreitet werden sollte, und der Islam als eine Religion, deren Lehren mit der Vernunft in Einklang stehen. Ein weiteres interessantes Beispiel ist Henry Stubbe (gest. 1676), ein englischer Arzt, dessen Schrift An Account of the rise and progress of Mahometanism erst 1911 erschien. Auch er beschreibt die Lehren des Islam als besonders vernünftig und übereinstimmend mit dem Naturrecht. Der Umstand, dass alle diese Schriften entweder posthum oder anonym erschienen, macht bereits deutlich, dass diese positive Sicht des Islam nicht gesellschaftsfähig war – was vor allem auf ihre christentumskritische Tendenz zurückzuführen ist. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass Lessing diese Schriften kannte. Viel vertrauter war er mit einer anderen Sicht, in der Islam als Ausdruck des Fanatismus verstanden wurde.

Islam als Fanatismus
Als 21-jähriger erhält Lessing den Auftrag, einige Schriften von Voltaire ins Deutsche zu übersetzen (Kleinere Historische Schriften 1752). Darin enthalten ist der kurze Text Von dem Korane und Mahomed, der deutlich zeigt, dass Voltaire im Islam keineswegs eine vernünftige oder natürliche Religion sieht. Muhammad sei ein “erhabener und verwegener Marktschreyer“ der Koran ein „Mischmasch, ohne Verbindung, ohne Ordnung, und ohne Kunst“ und die Araber ein räuberisches Volk. Mit Vernunft hat der Islam für Voltaire nichts zu tun, stattdessen viel mit „Raserey“ und „Enthusiasterey“. Was er von Muhammad und dem Koran hält, macht er in einem Brief an Friedrich den Großen deutlich:

„[...] daß er [Muhammad] sich damit brüstet, in den Himmel entrückt worden zu sein und dort einen Teil jenes unverdaulichen Buches empfangen zu haben, das bei jeder Seite den gesunden Menschenverstand erbeben läßt, daß er, um diesem Werke Respekt zu verschaffen, sein Vaterland mit Feuer und Eisen überzieht, (...) das ist nun mit Sicherheit etwas, was kein Mensch entschuldigen kann, es sei denn, er ist als Türke auf die Welt gekommen, es sei denn, der Aberglaube hat ihm jedes natürliche Licht erstickt.“

Der Islam wird so zum Paradigma des Fanatismus, der für Voltaire allen Religionen innewohnt und mit zentralen Kampfvokabeln der Aufklärung assoziiert: „Aberglaube“, „Schwärmerei“ und „Fanatismus“. „Schwärmerei“ bezeichnet einen Zustand des religiösen Wahns, kann aber auch generell eine krankhaft gesteigerte Einbildungskraft meinen. Voltaire zielte mit dem Begriff „Fanatismus“, der für ihn gleichbedeutend ist mit „Aberglauben“, vor allem auf den unaufgeklärten Obskurantismus der katholischen Kirche. Leibniz galt die Berufung auf die unmittelbare Evidenz des Gefühls ohne Vermittlung der Vernunft als „fanatisch“ – Fanatismus stellt also einen Mangel an Vernunft dar. Durch die Anwendung dieser Begriffe auf den Islam wird dieser als eine Art von Anti-Aufklärung charakterisiert.

Es stellt sich die Frage, wie es zu so unterschiedlichen Wertungen des Islam kommen kann – Religion der Vernunft einerseits, Aberglaube und Fanatismus andererseits. Die Ausbildung zweier einander entgegenstehender Sichtweisen des Islam hängt möglicherweise mit zwei Tendenzen der Aufklärung zusammen, die sich ebenfalls zu widersprechen scheinen. Auf der einen Seite gab es die Bereitschaft, Elemente der Verwandtschaft im „Anderen“ zu entdecken, eine Tendenz des 18. Jahrhunderts, die Said als „sympathetische Identifikation“ bezeichnet hat. Dazu gehörte auch die Tendenz, die Vernunftbegabung als eine Eigenschaft aller Menschen anzusehen. Diese Bereitschaft hatte eine Öffnung gegenüber anderen Religionen und Kulturen zur Folge.

Andererseits zeigt sich die Tendenz, Menschen und Völker zu klassifizieren und ihnen spezifische Eigenschaften zuzuweisen – also eine essentialistische Sichtweise. Immanuel Kant (1724-1804) führt etwa die Unterschiede zwischen den Völkern auf verschiedene Ursachen wie Klima, Luftverhältnisse und Ernährung zurück (ähnlich Herder). Die äußerlichen Merkmale verweisen aber auch auf psychische Dispositionen und charakterliche Eigenschaften, und damit wird eine Hierarchisierung verbunden: Die „Race der Weißen“ steht an der höchsten Stelle, weit vor den „gelben Indianer[n]“ und noch viel weiter vor den „Neger[n]“. Diese Hierarchisierung kommt auch in der Darstellung der Muslime zum Tragen, wobei hier zu der anderen „Race“ noch – wie bei den Juden – der andere Glaube hinzukommt. Muslime finden sich vor allem im Orient, in heißen Ländern also, deren Klima nicht ohne Auswirkung auf ihren (National-)Charakter bleibt: Was die Araber betrifft, bescheinigt man ihnen passend zum Wüstenklima eine „erhitzte Einbildungskraft“, eine Eigenschaft, die natürlich auch auf ihre Religion abfärbt, die als Aberglaube und Fanatismus abqualifiziert wird. So sieht Kant im „Nationalcharakter“ der Araber eine Affinität zum „Wunderbaren“ (mit Araber sind unausgesprochen ausschließlich Muslime gemeint, christliche und jüdische Araber werden ausgeblendet), und auch ihm dient der Islam als ein Beispiel für Fanatismus: Im Falle des Islam werde deutlich, wohin der Fanatismus führen könne: „Die menschliche Natur kennt kein gefährlicheres Blendwerk [als den Fanatismus/die Schwärmerei]. Wenn der Ausbruch davon neu ist [...] erduldet bisweilen sogar der Staat Verzuckungen. Die Schwärmerei führet den Begeisterten auf das Äußerste, den Mahomet auf den Fürstenthron, und den Johann von Leyden aufs Blutgerüste.“

Das Bild des Islam als Schwärmerei und Fanatismus spielt natürlich eine wichtige Rolle, sich der eigenen Rationalität und geistigen Entwicklung zu versichern, indem Aberglaube und Irrationalität den „Anderen“ zugeschrieben wird.

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III Der Islam als vernünftige Religion

Die Sicht auf den Islam als Fanatismus war Lessing durch Voltaire gut bekannt. Er selbst hat sich jedoch ganz anders geäußert. Als erstes finden wir einige Äußerungen über die Muslime in einer Zeitung, wo er seine eigene Übersetzung von Marignys Geschichte der Araber zur Zeit der Kalifen (1752/53) ankündigt: Er verweist auf die herausragenden historischen und kulturellen Leistungen der arabischen Muslime:

„Seit dem Verfalle des römischen Reiches, verdient wohl die Geschichte keines einzigen Volkes mit mehrerm Recht bekannt zu sein, als die Geschichte der arabischen Muselmänner; sowohl in Betrachtung der großen Leute welche unter ihnen aufgestanden sind, (...), als in Ansehung der Künste und Wissenschaften, welche ganze Jahrhunderte hindurch den schönsten Fortgang unter einem Volke genossen, welches uns unsre Vorurteile gemeiniglich als ein barbarisches Volk betrachten lassen.“

Lessing hebt weiterhin hervor, dass die islamische Geschichte genauso wichtig und lehrreich sei wie die griechische oder römische Geschichte. Interessanterweise spricht er im Zusammenhang mit den Muslimen und ihren Leistungen in den Wissenschaften von „Aufklärung“: „Der Anfang einer so wichtigen Epoche für den menschlichen Verstand, der sich plötzlich unter ungesitteten kriegerischen Völkern aufzuklären anfing, so daß sie in kurzem ebenso viele Gelehrte als Helden aufzuweisen hatte, wird nicht anders als mit vielem Vergnügen gelesen werden können.“

Hier wird bereits deutlich, dass Lessing bei seinem Lesepublikum eine Menge Vorurteile vorausgesetzt hat, gegen die er anschreiben wollte. Ihm war bewusst, dass die Muslime als „Barbaren“ angesehen wurde, und wollte durch die Information über ihre Geschichte zeigen, dass dieses Vorurteil nicht berechtigt ist.

1754 äußert sich Lessing zum erstenmal in einer eigenen Schrift zum Islam, der Rettung des Hieronymus Cardanus. Cardanus, ein Universalgelehrter der Renaissance, hatte 1550 ein Buch veröffentlicht, in dem er einen Götzendiener, einen Juden, einen Christen und einen Muslim über die wahre Religion streiten lässt. Am Ende siegt natürlich der Christ - und das gefällt Lessing überhaupt nicht. Er wirft Cardanus vor, er sei mit den anderen Religionen nicht aufrichtig verfahren, und zwar insbesondere nicht mit dem Islam. Cardanus hätte sich erst einmal richtig mit dem Islam auseinandersetzen müssen, bevor er diesen Religionsvergleich anstellt. Und dann stellt Lessing seinen eigenen Religionsvergleich an und lässt einen Muslim auftreten, der den Islam folgendermaßen darstellt:

„Wirf einen Blick auf sein [Muhammads] Gesetz! Was findest Du darinne, das nicht mit der allerstrengsten Vernunft übereinkomme? Wir glauben an einen einzigen Gott: wir glauben eine zukünftige Strafe und Belohnung, deren eine uns, nach Maßgebung unserer Taten gewiß treffen wird. Dieses glauben wir, oder vielmehr, [...] davon sind wir überzeugt, und sonst von nichts.“

Über das Christentum sagt der Lessing'sche Muslim: „Das, was [...] der Christ seine Religion nennet, ist ein Wirrwarr von Sätzen, die eine gesunde Vernunft nie für die ihrigen erkennen wird.“ Lessing dreht den Spieß damit um: Der Islam ist auf einmal die vernünftige Religion und das Christentum eine Lehre, die vom Menschen verlangt, unvernünftige Dinge zu glauben. Nachdem der Muslim mit seiner Rede fertig ist, kommt der Christ gar nicht mehr zu Wort, und die Frage nach der wahren Religion ist auf einmal völlig offen. Und das ist genau das, was Lessing erreichen wollte. Er stellt den Islam als eine besonders vernünftige Religion dar, um die christliche Wahrheitsgewissheit zu erschüttern.

Zu beobachten ist dabei Folgendes: In Lessings Darstellung des Islam erfolgt eine inhaltliche Angleichung an die „natürliche Religion“ des Deismus. Mit dem Konstrukt der natürlichen Religion wurde versucht, die christliche Lehre an das Denkmodell des Rationalismus anzupassen, womit eine Lösung vom Offenbarungsgedanken verbunden war. Die Deisten glaubten an Gott, aber nicht an eine spezielle Offenbarung, sondern entwickelten „natürliche“ Religion. Diese komme ohne Offenbarung aus, da der Mensch allein aufgrund seiner Vernunft in der Lage sei, Gott zu erkennen und moralisch gut zu handeln. Die Erkenntnis Gottes und das moralisch gute Handeln sind die beiden zentralen Punkte der natürlichen Religion, und diese sind es auch, die Lessings Muslim nennt, um den Islam zu beschreiben: „Wir glauben an einen einzigen Gott: wir glauben eine zukünftige Strafe und Belohnung, deren eine uns, nach Maßgebung unserer Taten gewiß treffen wird.“

Mit seiner Darstellung des Islams als einer natürlichen Religion verfolgt Lessing eine doppelte Zielsetzun: Er will zum Einen Zweifel an der Wahrheitsgewissheit des Christentums wecken und zum Nachdenken anregen. Die Folgen der Lehren des Deismus waren Bibel- und Kirchenkritik und diesen kritischen Impetus nimmt Lessing auf, wenn er den Islam als eine natürliche Religion präsentiert, die auf Vernunftlehren statt auf Offenbarungen beruht. Zum Anderen greift er die allgemeine, seit Jahrhunderten verbreitete negative Bewertung des Islam an. Das Verfahren, das er anwendet, kann man als „strategische Aufwertung“ (Kuschel) bezeichnen: Durch eine bewusste und kalkulierte Auswahl werden positiv bewertete Aspekte in den Vordergrund gerückt, um ein gerechteres Urteil zu ermöglichen. Der Aspekt der Gerechtigkeit ist auch ein wesentlicher Bestandteil von Lessings Toleranzbegriff.

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IV Die Rolle des Islam in der Toleranzdebatte

In der Aufklärung erfolgte der Durchbruch von einer rein pragmatischen zu einer inhaltlichen Begründung der Toleranz. Man muss allerdings berücksichtigen, dass sich dieser Durchbruch au einen eher kleinen Kreis von Philosophen und Gelehrten beschränkte. Was man im Allgemeinen unter „Toleranz“ verstand, macht der Eintrag in Zedlers Universal-Lexicon von 1745 deutlich: Toleranz sei „[...] nichts anders, als daß man äusserlich im gemeinen Leben friedlich mit einander umzugehen sucht, einander die Pflichten des Rechts der Natur nicht versaget, und auf den Cantzeln und in denen Schrifften die vorgegebene irrige Meynung mit aller Sanffmuth widerleget, und also einander mit Vernunfft und Bescheidenheit eines bessern zu belehren bemühet ist. [...]“

Toleranz dient hier letztlich dem Zweck der Mission. Dass dieses Toleranzverständnis von dem Lessings weit entfernt ist, liegt auf der Hand. Lessing geht es nicht um das einfache „Dulden“, d.h. um rein taktisches Verhalten, sondern um eine erkenntnistheoretische Grundlage der Toleranzforderung. Entscheidend für Lessing ist die Überzeugung, dass die absolute Wahrheit für den Menschen nicht fassbar ist. Nur eine Annäherung an die Wahrheit ist möglich. Die Toleranzforderung wird so erkenntnistheoretisch begründet durch die Differenz zwischen dem endlichem Wissen der Menschen und der unerreichbaren absoluten Wahrheit.

Da an die absolute Wahrheit nur eine Annäherung möglich ist, kommt es für Lessing darauf an, dass der Mensch sich fortwährend um eine tiefergehende Erkenntnis bemüht. Wer sich bereits im Besitz der Wahrheit wähnt, bringt sich selbst um die Möglichkeit einer weiteren Annäherung. Dieser Aspekt von Lessings Wahrheitsverständnis kommt in der berühmten, vielzitierten Stelle aus der Duplik (1778) zum Ausdruck:

„Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. (...) Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“
Für Lessing befindet sich der Andersgläubige nicht notwendig im Irrtum, er ist zu tolerieren wegen des Wahrheitspotentials oder der Wahrheitstendenz, die ihm zukommt. Die abweichende Meinung wird deshalb von Lessing nicht einfach nur geduldet, sondern die ernsthafte Auseinandersetzung mit ihr wird als notwendig für die eigenen Bemühungen um Erkenntnis angesehen. Eine solche Haltung ist ohne den Respekt und die Anerkennung des Anderen nicht denkbar. Lessing zeigt hierin Übereinstimmungen mit Goethe und dessen bekannter Maxime: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen, Dulden heißt beleidigen.“

(Goethe versteht hier Toleranz nach dem wörtlichen Sinn: „tolerare“ ist eigentlich ein negativer Begriff, der das „Dulden“ oder „Über-sich-ergehen-lassen“ bezeichnet. Wenn im Folgenden vom Toleranzverständnis Lessings die Rede ist, ist natürlich etwas anderes gemeint: eine Haltung der Anerkennung und des Respekts.)

Der Islam spielt für Lessings Einsatz für Toleranz eine wichtige Rolle. Dies wurde schon deutlich in den Ankündigungen der Geschichte der Araber, wo er gegen das Vorurteil angeht, die Muslime seien Barbaren, und in der Rettung der Hier. Cardanus, wo er gegen die verbreitete Meinung, der Islam sei irrational, die Vernunftgemäßheit des Islam hervorhebt. Ein weiteres wichtiges Beispiel ist eine Schrift, mit der er die Veröffentlichung der Fragmente eines Ungenannten, der bibel- und offenbarungskritischen Fragmente des Hermann Samuel Reimarus einleitet. Sie heißt  Von Adam Neusern. Einige authentische Nachrichten (1774) und er setzt sich darin für die Rehabilitierung eines Unitariers ein, der im 16. Jahrhundert zum Islam konvertiert war. Adam Neuser wurde aufgrund seines Übertritts und der Flucht nach Konstantinopel als Verräter der Christenheit und als ein höchst lasterhafter und unmoralischer Mensch gebrandmarkt. Lessing hingegen macht deutlich, dass ein solcher Schritt für einen Unitarier theologisch gesehen durchaus konsequent sein kann.

Lessing hat sich auch für die islamische Philosophie interessiert und sich von ihr anregen lassen: Er las den philosophischen Roman Haiy Ibn Yaqzan von Abu Bakr Ibn Tufail aus dem 12. Jahrhundert, der unter dem Titel Philosophus Autodidactus in Europa bekannt wurde. Parallelen zu diesem Roman finden sich in einer zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Schrift Über die Entstehung der geoffenbarten Religion (1763). Die produktive Rezeption von islamischer Theologie und Geschichte zeigt sich schließlich auch im Nathan.

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V Nathan der Weise und die Ringparabel

Wir kommen damit zu dem Drama Lessings, in dem er sich wie in keinem anderen Werk für Toleranz ausgesprochen hat: Nathan der Weise (1779).

Das Stück spielt im Jerusalem des 12. Jahrhundert, zur Zeit der Kreuzzüge und der Herrschaft des Sultan Saladin, der zugleich eine der wichtigsten Figuren des Stücks ist. Saladin wird als ein toleranter und aufgeklärter Herrscher dargestellt. Nathan ist ein jüdischer Kaufmann, der vor vielen Jahren seine gesamte Familie durch einem antisemitischen Pogrom durch Christen verloren hat. Er ist jedoch mit Gottes Hilfe in der Lage seinen Hass auf die Christen zu überwinden und adoptiert ein christliches Mädchen, Recha. Das Stück beginnt damit, dass Nathan von einer Reise zurückkehrt und erfährt, dass ein Tempelherr (ein Angehöriger eines Kreuzfahrer-Ordens) seine Adoptiv-Tochter Recha aus einem Feuer, das in seinem Haus ausgebrochen ist, gerettet hat. Der Tempelherr selbst ist kurz zuvor von Saladin begnadigt worden. Er war ein Kriegsgefangener und sollte eigentlich wie die anderen gefangenen Tempelherren hingerichtet werden, aber Saladin hat sich durch sein Gesicht an seinen Bruder Assad erinnert gefühlt, der vor vielen Jahren nach Europa gegangen war, und bereits verstorben ist. Der Tempelherr verliebt sich in Recha, und hält bei Nathan um ihre Hand an. Aber Nathan hat einen gewissen Verdacht und möchte erst wissen, wer der Tempelherr genau ist. Und tatsächlich stellt sich am Ende nach vielen Verwicklungen heraus, das Recha und der Tempelherr Geschwister sind, dass sie beide Kinder von Assad, dem Bruder Saladins, und damit Nichte und Neffe von Saladin sind. Es gibt eine große Wiedererkennungs-Szene und am Ende steht auf der Bühne eine einzige große Familie, in der die Unterschiede der Religion keine Rolle spielen. Die bekannte letzte Regieanweisung lautet: “Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang.”

An einer zentralen Stelle des Stücks erzählt Nathan die bekannte Ringparabel: Saladin stellt ihm die Frage, welche Religion die beste sei. Nathan geht dieser Fangfrage aus dem Weg, indem er ein „Geschichtchen“ erzählt: Ein Mann besaß einen Ring, der die besondere Kraft hatte, „seinen Träger vor Gott und den Menschen angenehm zu machen.“ Dieser Ring wurde seit Generationen immer an den Sohn weitergegeben, den der Vater am liebsten hatte. Dieser Mann hat nun aber drei Söhne, die er alle gleich liebt und damit ein Problem. Er lässt deshalb zwei Imitationen anfertigen und gibt jedem seiner Söhne einen Ring. Nach dem Tod des Vaters bricht natürlich ein Streit aus, welcher Ring/welche Religion die echte ist. Dieser Streit bringt die drei Brüder vor einen Richter. Der stellt zunächst fest, dass er den echten Ring, also die wahre Religion auch nicht rausfinden kann. Und dann gibt er den drei Brüdern folgenden Rat: Jeder solle daran glauben, dass der eigene Ring der echte sei. Und sie sollen um die Wette streben, den eigenen Ring als den echten zu erweisen - und zwar durch gute Taten und gutes Verhalten. Er sagt:

Es strebe jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott,
Zu Hülf! Und wenn sich dann der Steine Kraft
Bei euern Kindes- Kindeskindern äußern:
So lad' ich über tausend tausend Jahre,
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen,
Als ich; und sprechen.

Dieser Rat des Richters enthält gleich zwei Anspielungen auf den Koran:

Ergebenheit in Gott
Es gibt eine zentrale Formulierung im Drama, die nicht nur im Rat des Richters auftaucht, sondern auch noch an anderen Stellen. Dies ist die Formulierung „Ergebenheit in Gott“. Man hat für diese Formel jüdische, christliche und andere Bezüge gefunden, aber es hat exakt 217 Jahre gebraucht, bis man entdeckt hat, dass „Ergebenheit in Gott“ nichts anderes ist, als die wörtliche Übersetzung des arabischen Wortes islâm. (Erst 1996 hat Friedrich Niewöhner in einem Zeitungsartikel in der FAZ darauf aufmerksam gemacht.)
Das ist um so erstaunlicher, als nur in der muslimischen Tradition die Formulierung wirklich einen wörtlichen Beleg hat. Lessing war die Bedeutung des Wortes „Islam“ nachweislich bekannt: In seinen Notizen findet man die Aufzeichnung: „Islam ein Arabisches Wort, welches die Überlassung seiner in den Willen Gottes bedeutet.“ Bei Sale konnte Lessing im Vorwort zu seiner Koranübersetzung lesen: „Und dieser Religion leget er [Muhammad] den Namen Islam bey, welches Wort Resignation, Unterwerfung oder Ergebung in den Willen, Dienst und Befehl Gottes bedeutet, und als [...] der eigentliche Name der Mohammedanischen Religion gebraucht wird.“ Es ist also davon auszugehen, dass Lessing mit der Verwendung dieses Wortes bewusst einen Bezug zum Islam herstellen wollte.

Auch für die Empfehlung, dass man anstatt über die Wahrheit zu streiten lieber gut handeln sollte, sowie für den Aspekt des Wettbewerbs im guten Handeln gibt es eine Parallele im Koran. Es hat auch gar nicht mal so lange gedauert, bis man sie entdeckt hat: Bereits 1850 findet man im Stuttgarter Morgenblatt für gebildete Leser den kurzen Text Der Grundgedanke von Lessing's Nathan schon im Koran. Damit der (anonyme) Autor nicht in den Verdacht gerät, sich für den Koran einsetzen zu wollen, beschreibt er erst mal ausführlich, was für ein fürchterliches Buch das doch sei, aber dann kommt es:

„Unter den wenigen Stellen [...] glänzen am meisten in der fünften Sure Vers 52 ff., wo es, nach achtungsvoller Besprechung des mosaischen Gesetzes und des christlichen Evangeliums im Munde Gottes, dann des Propheten also heißt“:

Es folgt der Vers 48 aus Sura Al-Maida (5):
„Für jeden von euch haben Wir Richtlinien und eine Lebensweise bestimmt. Und wenn Gott gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. Er wollte euch aber in alledem, was Er euch gegeben hat, auf die Probe stellen. Darum wetteifert um die gottgefällig guten Taten. Zu Gott werdet ihr allesamt zurückkehren; und dann wird Er euch das kundtun, worüber ihr uneins waret.“

Und weiter heißt es im Stuttgarter Morgenblatt: „Wen erinnert dies nicht an Lessings Nathan, wenigstens an dessen Grundgedanken, den Richterspruch am Schlusse der Ringparabel?“

Die Vorlage für die Ringparabel hat Lessing der Literatur entnehmen können, sie war bei Boccaccio zu finden. Der Rat des Richters ist jedoch seine eigene Hinzufügung und hier hat er sich offensichtlich auch vom Koran inspirieren lassen:

Im Koran heißt es: „Wenn Gott gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht.“ Die Pluralität der Religionen ist Gottes Wille, sowie die Vielzahl der Ringe der Wille des Vaters war – wer hat dann das Recht oder eine Begründung dafür einer anderen Religion ihre Existenzberechtigung abzusprechen?

Wichtig ist auch der Aspekt der Prüfung. Im Koran heißt es: „Er wollte euch aber in alledem, was Er euch gegeben hat, auf die Probe stellen.“ Auch für die drei Brüder stellt die Existenz der drei Ringe eine Probe dar: Werden sie sich bekämpfen oder sind sie in der Lage weiterhin als Brüder miteinander umzugehen? Werden sie der Liebe, die ihnen ihr Vater entgegen gebracht hat, gerecht?
Weiter heißt es: „Darum wetteifert um die gottgefällig guten Taten“ – und im Rat des Richters: „Es strebe jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag / Zu legen.“ Ein Wettstreit im Guten ist der Weg, die Wahrheit der eigenen Religion zu erweisen. Dafür gibt es auch eine biblische Parallele: In Matthäus 7:20 heißt es über die Unterscheidung von wahren und falschen Propheten: „Also werdet ihr sie an ihren Früchten erkennen.“ Dass sich der wahre Glaube im guten Verhalten erweisen muss, ist auch ein wichtiger Grundsatz im Islam: So lautet ein bekannter Ausspruch des Propheten: „Ad-Dînu Mu’âmala“ – „Religion ist Verhalten.“

Schließlich die Verlagerung der Antwort auf die Frage nach der wahren Religion ins Jenseits: „Zu Gott werdet ihr allesamt zurückkehren; und dann wird Er euch das kundtun, worüber ihr uneins waret“ – „So lad' ich über tausend tausend Jahre, / Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird / Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen, / Als ich; und sprechen.“

Die Ringparabel propagiert damit weder eine Indifferenz gegenüber allen Religionen, noch ist Toleranz das Ergebnis einer Vergleichgültigung der Wahrheitsfrage. An die Brüder ergeht nämlich nicht die Aufforderung, den eigenen Wahrheitsanspruch fallen zu lassen – im Gegenteil. Der Richter fordert dazu auf, an der eigenen Überzeugung festzuhalten: „So glaube jeder seinen Ring den echten“ III,7. Die Aufforderung besteht darin, den fruchtlosen Streit um die Wahrheit aufzugeben und sich stattdessen durch praktisches Handeln zu bewähren.

Im Nathan wird mit seinen vielfältigen Bezügen auf die jüdische und islamische Theologie und Geschichte nicht nur zur Toleranz aufgefordert, vielmehr wird Toleranz im Sinne von Respekt und Anerkennung bereits auf der inhaltlichen Eben verwirklicht. Lessing hat aus allen drei monotheistischen Religionen Elemente und Traditionen in seinem Stück verarbeitet - und zwar besonders aus der jüdischen und muslimischen Tradition. (Das Christentum ist bekanntlich die Religion, die durch die Figur des Patriarchen am schlechtesten wegkommt).

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VI Nathan der Weise im 21. Jahrhundert

Was kann uns ein Stück wie der Nathan heute noch sagen? Die Botschaft des Nathan – die Zusammengehörigkeit aller Menschen über die Grenzen der Religionen hinweg und die Möglichkeit einer friedlichen Verständigung – ist schon öfter für tot erklärt worden. Vor dem Hintergrund der Erfahrung zweier Weltkriege, des Holocausts, des Bürgerkriegs auf dem Balkan, des Nahostkonflikts und zuletzt des Terrors islamistischer Extremisten und dem daraufhin erklärten „Kampf gegen den Terrorismus“, der bereits zwei Länder mit Krieg überzogen hat, scheint sich die Einsicht aufzudrängen, dass Lessing mit seiner Toleranzbotschaft zuviel verlangt: Ein Regisseur der zahlreichen Nathan-Inszenierung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 drückte dies so aus: „Eine sehr große Toleranz, eine nicht lebbare Toleranz aber auch. Das ist die Tragik!“

Ein anderes Problem für die Nathan-Rezeption ist, dass im Laufe der Zeit Lessings Toleranzbegriff durch eine allgemeine Vereinnahmung trivialisiert wurde: Der Islamwissenschaftler Navid Kermani schreibt dazu: „Lessings Toleranzbegriff ist zunächst vom bürgerlichen Normalbewußtsein, später auch von den Kirchen so restlos aufgesogen worden, daß er jeden herrschaftskritischen Impuls verloren hat.“ Im Verlauf dieser Entwicklung wurde der Toleranzbegriff entleert und banalisiert. Ein Ausdruck ist die Inszenierung des Nathan im Berliner Ensemble im Jahr 2002. Lessing hatte zu seiner Zeit mit dem Nathan vor allem der eigenen, christlich-abendländischen Kultur in kritischer Absicht den Spiegel vorgehalten. Die „Anderen“, Juden und Muslime, sind in diesem Stück aufgeklärt und tolerant – und damit das positive Gegenbild zur eigenen Kultur.

In der Inszenierung des Berliner Ensembles treten die Muslime hingegen als orientalische Märchenfiguren mit albernen Zügen auf: Saladin „stakt als schnöseliger Angeber herum, geschönt durch lange Bartspitzen“ und „tänzelt als bleiche Karikatur eines Machthabers in blauem Schuhwerk daher“, so die Kritiker der Zeitungen. Auf dem Bühnenportal sind  Symbole für alle drei Religionen angebracht: für das Christentum das Kreuz, für das Judentum der Davidstern – und für den Islam: das Passagierflugzeug. Während auf der Bühne die Muslime als orientalische Märchenfiguren auftreten, suggeriert das Bühnenbild einen gewalttätigen Islam. Zwei grundlegende Elemente des alten Islambildes treten damit in neuem Gewand in Erscheinung: Irrationalität und Gewalttätigkeit.

Noch etwas anderes fällt an dieser Inszenierung auf: In Lessings Drama ist der tolerante und aufgeklärte Nathan ein orientalischer Jude, in der Inszenierung des Regisseurs Peymann erscheint er als Europäer und tritt im westlichen Designer-Anzug auf. Aus Lessings kritischer Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur ist damit die Affirmation ihrer geistigen und moralischen Überlegenheit geworden.

Diese Umkehr des Lessingschen Intention ist schon befremdlich genug, noch befremdlicher ist allerdings, das sie trotz aller Kritik, die es an der Inszenierung gab, kaum jemanden aufgefallen ist. Die Zeitungen heben die Darstellung des Nathan lobend hervor. („Glänzend allein Peter Fitz in der Titelrolle (ein sympathisch gewitzter Intellektueller ...)“ lobt etwa Die Welt.) Kermani hat hingegen die Problematik dieser Nathan-Darstellung deutlich gemacht:

„Während Lessing gegen die Intoleranz des Westens angeschrieben hat, hat Peymanns Inszenierung die Toleranz verwestlicht. Ihr Träger ist keiner von denen, wie bei Lessing, sondern einer von uns. Alle Figuren in der Inszenierung werden durch ihre Kostüme in den exotischen Orient versetzt, nur einer ist wie der Okzidentale Claus Peymann gekleidet: Nathan der Weise. Man könnte ihn auch Nathan den Weißen nennen, immerhin wäre dann der Rassismus benannt, welcher der Inszenierung unbewußt zugrunde liegt.“

Ist diese Verkennung der Lessingschen Intention (die nicht nur in der Inszenierung des Berliner Ensembles zu Tage tritt) zugleich Symptom für eine allgemeine Aufweichung des Toleranzbegriffs?
Lessings Toleranzverständnis wurde beschrieben als eine Haltung des Respekts und der Anerkennung: keine bloße Duldung anderer Überzeugungen, sondern eine ernsthafte und konstruktive Auseinandersetzung mit ihnen. Erfüllen heutige Toleranzmodelle diesen Anspruch oder fallen sie dahinter zurück?

An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich von Lessings Toleranzbegriff mit einem Modell an, das gegenwärtig auf relativ breite Zustimmung zu stoßen scheint. Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst plädiert unter den verschiedenen Toleranz-Modellen für eine „Respekt-Konzeption“, die „Toleranz als Tugend der Gerechtigkeit und als Forderung der Vernunft“ begründet. Toleranz beruht in diesem Modell auf einer „moralisch begründeten Form der wechselseitigen Achtung der sich tolerierenden Individuen bzw. Gruppen“. Die Anerkennung des anderen in seiner Anders- und Eigenheit wird als moralische Verpflichtung verstanden. Mit dem Begriff des Respekts wird somit die Haltung der Anerkennung, die bereits Lessing und nach ihm Goethe gefordert hat, als Grundlage der Toleranz bestimmt.

Ist die zentrale Bedeutung des Respekts ein Anzeichen dafür, dass Lessings Toleranzbegriff heute allgemeine Anerkennung findet? Jürgen Habermas hat in einer Rede viel stärker den praktischen Nutzen des Toleranzgebotes betont:

„Funktional betrachtet, soll religiöse Toleranz die gesellschaftliche Destruktivität eines unversöhnlich fortbestehenden Dissenses auffangen. Das soziale Band, welches Gläubige mit Andersgläubigen und Ungläubigen als Mitglieder derselben säkularen Gesellschaft verbindet, soll nicht reißen.“ („Wann müssen wir tolerant sein?“ 2002)

Hier hat die Haltung der Toleranz das Ziel, den gesellschaftlichen Frieden zu sichern. Vielleicht ist das auch alles, was man realistischerweise verlangen kann. Lessing ist jedenfalls weiter gegangen: Der Aspekt der Friedenssicherung spielt zwar auch bei Lessing eine Rolle (so verhindert die Toleranzforderung im Rat des Richters auch, dass sich die Brüder gegenseitig die Köpfe einschlagen), dennoch geht sein Verständnis von Toleranz darüber hinaus. Toleranz bedeutet bei Lessing nicht nur das Zulassen, sondern das Sich-Einlassen auf andere Überzeugungen. Nach diesem Verständnis ist Toleranz die Grundlage für eine produktive Auseinandersetzung mit anderen Ideen und Konzepten: Die Einsicht in andere Perspektiven ermöglicht einen Erkenntniszuwachs und so kann die Beschäftigung mit anderen Religionen und Kulturen zu einer Bereicherung werden.

Mit der Vorstellung, dass dies auch für den Islam zutrifft, stand Lessing schon in der Aufklärung isoliert da. Heute wird der Islam sowenig als Bereicherung gesehen wie je. Die Anwesenheit von mehreren Millionen Muslimen in Europa wird eher als Problem verstanden, und der Islam stellt offensichtlich zur Zeit die größte Herausforderung für die europäische Toleranz dar. In Deutschland kommt es bei Fragen der Religionsausübung von Muslimen, wie dem Schächten, dem Moscheebau oder dem Tragen des Kopftuches regelmäßig zu Kontroversen. In diesen bündeln sich nicht selten alle Ängste, die mit der Anwesenheit einer als „fremd“ bis „gefährlich“ angesehenen Minderheit verbunden sind.

In Frankreich wie in Deutschland zeigt sich im Zusammenhang des aktuellen „Kopftuchstreits“, dass sich die gesellschaftliche und politische Praxis in weiten Teilen nicht an einer als „Respekt“ verstandenen Toleranz orientiert, die – so auch Forst – das Kopftuch im Unterricht zu tolerieren (d.h. zu respektieren) hätte. In letzter Zeit scheint sich vor dem Hintergrund der aktuellen weltpolitischen Verhältnissen die nicht nur im „Kopftuchstreit“ zu beobachtende Kulturkampf-Rhetorik zu verschärfen. Der vorgeblich religiös motivierte Terrorismus, die Eskalation des Nahost-Konflikts, die neuerliche Rede von „Kreuzzügen“ – all dies sind Phänomene, die den von Samuel Huntington geweissagten „Kampf der Kulturen“ scheinbar Realität werden lassen und die Tendenz verstärken, von Kulturen als Blöcken zu denken, die auf fest umrissene und unveränderliche Identitäten aufbauen. „Der Islam“ und „der Westen“ stehen sich in dieser Weltsicht als geschlossene Systeme unvereinbar gegenüber. Und auf beiden Seiten arbeiten die Vertreter dieser Weltsicht sorgfältig an der Pflege der jeweiligen Feindbilder.

Die Vorstellung von eindimensionalen und eindeutig abgrenzbaren Identitäten sollte nicht erst angesichts der Entwicklungen der Globalisierung und der Migration als imaginäres Konstrukt widerlegt sein. Kulturen unterlagen schon immer historischen Wandlungsprozessen und entwickelten sich im gegenseitigen Austausch. Anscheinend ist jedoch die „Rückbesinnung“ auf das „Eigene“ und die Abgrenzung vom „Anderen“ in der Moderne zum Bedürfnis geworden, um sich der eigenen, unsicher gewordenen Identität neu zu versichern. Diese fundamentalistische Konstruktion von Identität ist in islamistischen Strömungen, die den Islam von „fremden“ Einflüssen reinigen wollen, genauso zu beobachten wie in Teilen der westlichen Gesellschaften, wo man meint, eine „Leitkultur“ vor dem Zerfall bewahren zu müssen.

Lessing hat den Aufbau eines solches Gegenbildes zur eigenen Gesellschaft zweifach unterlaufen: Durch die Charakterisierung des Islam als einer Religion der Vernunft und Toleranz einerseits und den Hinweis auf intolerante und irrationale Elemente der eigenen, christlich-abendländischen Kultur andererseits. Die Aktualität von Lessings Auseinandersetzung mit dem Islam liegt deshalb vor allem in zwei Punkten:

- in der Bereitschaft, grundlegende Werte nicht nur in der eigenen, sondern auch in anderen Kulturen und Religionen zu entdecken und sie damit als universell zu begreifen.

- in der Bereitschaft zur Kulturkritik

In dieser Haltung ist Lessing ein Vorbild – für Muslime wie Nichtmuslime. Zu den Voraussetzung für einen gleichberechtigten Dialog gehört, sich von essentialistischen Betrachtungsweisen zu lösen. Gegenüberstellung wie rationaler Westen versus irrationaler/fanatischer Islam oder auf muslimischer Seite moralischer Islam versus unmoralischer Westen müssen aufgelöst werden durch die Einsicht in die Komplexität und die Verschiedenheit innerhalb jeder Kultur und Religion selbst.

Außerdem gilt es, über die Unterschiede von Religion und Kultur hinweg, die gemeinsamen Werte zu entdecken, und sich nicht in erster Linie als Angehörige von verschiedenen Religion, sondern als Menschen zu begegnen. Oder wie Nathan es ausdrückt: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, / Als Mensch?“ (II,5).

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Literatur:

Forst, Rainer: Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft. In: Toleranz. Hrsg. v. Rainer Forst, Frankfurt/M. 2000, S. 119-143.

Ders.: Toleranz im Konflikt: Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt/M. 2003.

Hentges, Gudrun: Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und „Wilden“ in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts. Schwalbach 1999.

Horsch, Silvia: Rationalität und Toleranz. Lessings Auseinandersetzung mit dem Islam. Würzburg 2004.

Kermani, Navid, Robert Schindel und Angelika Overath: „Toleranz“. Drei Lesarten zu Lessings Märchen vom Ring. Göttingen 2003

Kuschel, Karl-Josef: „Jud, Christ und Muselmann vereinigt?“ Lessings „Nathan der Weise“. Düsseldorf 2004

Ders.: Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam. Düsseldorf 1998.

Niewöhner, Friedrich: Das muslimische Familientreffen. Gotthold Ephraim Lessing und  die Ringparabel, oder: Der Islam als natürliche Religion. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 6. 1996, Nr. 129, S. N6.

Ders.: Vernunft als innigste Ergebenheit in Gott. Lessing und der Islam. In: Neue Züricher Zeitung vom 10.11.2001, Nr. 262 (o.S.).

Said, Edward W.: Orientalismus. [Orientalism, 1978 dt.] Frankfurt/M. 1981.

Schimmel, Annemarie: West-östliche Annäherungen. Europa in der Begegnung mit der islamischen Welt. Stuttgart 1995.

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