“Jede Religion hat ihren Charakter. Der Charakterzug des Islams ist die Scham.“ (Mālik, Ibn Mājah)
Anmerkungen zu einer unzeitgemässen Tugend
Dieser Hadith scheint auf den ersten Blick jenen Anthropologen
Recht zu geben, die die Kulturen der Welt in Schuld- und Schamkulturen einteilen und letzteren die vom Islam geprägten Kulturen zuordnen. Während in Schamkulturen die Reaktionen äusserer Instanzen Scham
über unangebrachtes Verhalten im Individuum hervorriefen, hätte dieses in Schuldkulturen die beschuldigende Instanz verinnerlicht – die Wertungen, die mit dieser berechtigterweise umstrittenen Einteilung
einhergehen, sind klar.
Was aber ist damit gemeint, dass „Scham“ der Charakter des
Islams sei? Das Wort hayā’ trägt auch die Bedeutungen „Schüchternheit“, „Zurückhaltung“ oder „Bescheidenheit“. Scham oder Schüchternheit empfinden die Gläubigen jedoch nicht aus Angst vor
Beschämung durch andere Menschen, vielmehr sind sie schüchtern vor Gott: „[…] Wer sich vor Gott schämt, mit der Scham die Ihm gegenüber angemessen ist, soll seinen Kopf bewahren und was darin ist [d.h.
Sehen, Hoeren, Rede], seinen Bauch und was darin ist und oft an den Tod und den Verfall denken. Wer sich das Jenseits wünscht, kümmert sich nicht um den Schmuck dieser Welt. […]“ (at-Tirmidhī; Ahmad
b. Hanbal)
In diesem Sinne ist Scham oder Schüchternheit eine
Lebenseinstellung, die die Gläubigen dazu veranlasst, zu lassen, was Gott missfällt und zu suchen, was Seine Zufriedenheit findet. Dass dies nichts mit Gehemmtheit, Verklemmtheit, Angst oder mangelndem
Selbstwertgefühl zu tun hat, zeigt zuallererst das Beispiel des Propheten selbst – Friede und Segen seien auf ihm – der als „schüchterner als eine Jungfrau in ihrem Gemach“ (al-Bukhārī)
beschrieben wird.
Auffällig ist, dass hayā’ und īmān (Glaube) in mehreren Hadithen in Verbindung gebracht werden: „hayā’ gehِrt zum īmān und īmān
führt ins Paradies, verdorbene Rede gehört zur Grobheit und Grobheit führt ins Feuer.“ (at-Tirmidhī, Ibn Mājā, Ahmad b. Hanbal) Dieser Hadith verweist wie einige weitere darauf, dass
wahrer oder vollständiger Glaube nicht nur das Für-Wahr-Halten eines Sets von Aussagen beinhaltet, sondern sich in einem bescheidenen Charakter und entsprechendem Handeln manifestiert. Wem Gott die
Bescheidenheit nicht in die Wiege gelegt hat, der findet im īmān den Weg, sie zu erwerben, denn das Wissen um das Jenseits, um die eigene Geschöpflichkeit und die daraus resultierende vollständige Abhängigkeit von Ihm rücken das Diesseits und seinen Schmuck – zu dem auch gesellschaftliche Anerkennung gehört – in das richtige Verhältnis.
Nun sind gegenwärtig weder Scham noch Schüchternheit oder
Bescheidenheit Eigenschaften die hoch im Kurs stehen. Schüchterne und introvertierte Menschen gelten vielmehr als mit einem Makel behaftet, der ihnen möglichst abgewöhnt werden muss – ein ganzer Markt
von Selbsthilfeliteratur und Trainingsangeboten zielt darauf, extrovertierte Selbstdarsteller zu produzieren, denen dann privat wie beruflich alle Türen offen stehen sollen. Zum schlechten Image der
Schüchternheit kommt der permanente Druck, aber auch die permanente Verführung zur Selbstdarstellung, sei es durch Kleidung (mit oder ohne Kopftuch) oder auf Facebook. Bescheiden, schüchtern oder
schamhaft zu sein – wohlgemerkt nicht in einem Sinne, der auf mangelndem Selbstwertgefühl beruht – ist vielleicht noch nie so schwer gewesen wie heute. Wenn hayā’ als Charakteristikum der
Gläubigen (denn natürlich können die Charakteristika einer Religion nur an ihren Anhängern erkannt werden) bestehen bleiben soll, wäre ein erster Schritt diesen Drang zur Selbstdarstellung zu erkennen
und in Frage zu stellen. Weniger Schein, mehr Sein!
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