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6. Ghazâlîs Leistungen
Ghazâlî hat sich im Laufe seines Lebens mit allen wichtigen Diskursen innerhalb der damaligen islamischen Welt auseinandergesetzt: mit
der Theologie, der Philosophie, der Bâtinîya (im weiteren Sinne dem Schî'ismus) und dem Sûfismus. Auf jeden dieser Bereiche hat er einen mehr oder weniger bedeutenden Einfluß ausgeübt.
Sein Einfluß auf die islamische Philosophie läßt sich in zwei Aspekten beschreiben. Zum einen war er sicherlich am
Niedergang der (reinen) Philosophie innerhalb des Islams beteiligt, wobei jedoch unklar ist, in welchem Ausmaß. Es gab in der östlichen islamischen Welt keinen großen Philosophen mehr nach Ibn Sînâ,
dieser ist jedoch 428/1037 gestorben, so daß es möglich ist, daß die Philosophie schon vor Ghazâlîs Angriff im Niedergang begriffen war. Im islamischen Westen, in Andalusien, traten noch einige
einfluĂźreiche Philosophen auf, wie Ibn Tufail und Ibn Ruschd (Averroes), doch schlieĂźlich kam die philosophische Bewegung auch hier zum Stillstand. Diese Entwicklung ist jedoch im Zusammenhang mit der
gesamten Geschichte Andalusiens zu sehen, wo das islamische Reich zerfiel und die christlichen Herrscher die Oberhand gewannen.
Die nachhaltigere Wirkung Ghazâlîs besteht in seiner Einbeziehung philosophischer Elemente in die islamische Theologie. Wie
al-Aš'arî zuvor das sunnitische Dogma mit den Methoden der Mu'tazila verteidigte, benutzte Ghazâlî die weitaus überlegeneren neoplatonischen (einschließlich der aristotelischen) Methoden, die er
bei Ibn Sînâ und anderen kenngelernt hatte.
Er schrieb mehrere BĂĽcher (insbesondere ĂĽber Logik), die an Gelehrte gerichtet sind, fĂĽr die die philosophischen Werke
nicht zugänglich oder zu schwierig waren. Dies führte dazu, daß nach Ghazâlî bei den 'Ulamâ' die Verwendung rationaler Methoden, wie z.B. der syllogistischen Logik allgemein üblich wurde (bis auf
die Hanbaliten, die jegliche rationalen Methoden ablehnten). Zwar wurde diese Entwicklung durch Männer wie al-Dschuwainî vorbereitet, "yet al-Ghazâlî alone made that combined study of philosophy
and theology that was necessary if the tension [zwischen Philosophie und Theologie]was to be resolved, and endured the brunt of conservative disapproval and criticism." [98] Ibn Chaldûn hat aus diesem Grund Ghazâlî als den Begründer einer neuen Tendenz in der Theologie bezeichnet. [99]
Sein Einfluß auf die Bewegung der Bâtinîya ist schwer einzuschätzen. Die ismâ'îlîtische Revolte im Osten hatte nach
487/1094, dem Jahr in dem Ghazâlî wahrscheinlich seine Streitschrift verfasste, keine Erfolge mehr zu verzeichnen, es ist jedoch fraglich, ob dies in einem ursächlichen Zusammenhang steht. Der
Mißerfolg der Bâtinîya ist wohl eher auf die fehlende Unterstützung durch die Fâtimiden in Ägypten, sowie auf eine zunehmende Entfremdung von der Stadtbevölkerung
zurückzuführen.[100] Die Schrift Ghazâlîs war auch nicht dazu angetan, die gegnerische Seite von ihrem Irrtum zu überzeugen, dies wäre ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Es ging vielmehr darum, potentielle Überläufer, insbesondere aus den gebildeteren Schichten, von diesem Schritt abzuhalten, worin das Buch sicherlich erfolgreich war.
Die größte Leistung Ghazâlîs besteht in seiner Einbeziehung der Mystik in die islamische Orthodoxie. Zwar gab es zwischen
der Klasse der Gelehrten und den Sûfîs enge Verbindungen, trotzdem bestanden gewisse Spannungen. Der Grund dafür lag vor allem darin, daß manche Sûfîs das islamische Gesetz (šari'a)
vernachlässigten oder sich gar nicht darum kümmerten. Dies war sicherlich auch eine Folge der Entwicklung der islamischen Theologie und Jurisprudenz, die sich immer mehr in Haarspaltereien verwickelte
und als Folge davon sowohl den Bezug zum Leben der Gläubigen als auch die Dimension der Spiritualität verlor. Viele Sûfîs für die vor allem das innere Leben im Vordergrund stand, erachteten wohl
auch aus diesem Grund eine äußere Befolgung der šarî'a als unwesentlich. Ghazâlî hat deutlich gemacht, daß es zwischen 'Innen' und 'Außen' keine Trennung geben kann. Dies bedeutet zum einen, daß einer inneren Einstellung auch das äußere Verhalten entsprechen muß, und zum anderen, daß die Befolgung der Vorschriften der šarî'a nicht von ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit des Menschen und ihrer spirituellen Dimension getrennt werden dürfen:
“Die šarî'a wird ihm zu einem Instrument, einem Führer der Seele, die ihrer Erlösung entgegenarbeitet, indem sie ihren Teil an dem göttlichen Geheimniss erringt, das nur dann zugänglich wird, wenn man sich ihm in angstvollem Sehnen nach der Liebe des Herrn nähert.”[101]
Auf diese Weise stellte er klar, daß der Sûfismus keine Alternative zur einer formalen Gesetzestreue ist, sondern deren Ergänzung
und Vollendung.
Es stellt sich die Frage nach Ghazâlîs Einfluß auf die 'Ulamâ', die er so scharf kritisiert hat. In diesem Punkt hat er
sicherlich nicht das erreicht, was er sich gewünscht hätte. Die Verweltlichung der Gelehrten bestand weiterhin, und ihre Lehrtätigkeit blieb in großen Teilen eine rein akademische Disziplin, ohne
Bezug zum Leben der einfachen Gläubigen. Auch die von Ghazâlî kritisierte Angewohnheit, Anhänger anderer Schulen als kafirûn zu verurteilen, wurde nicht aufgegeben. Falls Ghazâlî hier einen Einfluß ausgeübt hat, dann nur auf einzelne Personen, nicht auf die Gruppe der 'Ulamâ' als ganzes. [102]
Entscheidend war der Einfluß Ghazâlîs auf die islamische Gemeinschaft (umma) insgesamt, indem er der
gefühlsbetonten Religiösität ihren angemessenen Platz einräumte und die spirituelle Dimension der Religion in den Vordergrund stellte. Schon vor ihm waren Muslime in diese Richtung gegangen,
insbesondere die Sûfîs, aber Ghazâlî gab diesen Bestrebungen eine intellektuelle Grundlage. "Above all he made the individualistic aspect of religion intellectually
respectable." [103] Dies ist eine Leistung Ghazâlîs, die bis heute in der islamischen Welt nachwirkt.
7. Chronologie
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[98] Watt: Muslim Intellectual, S. 172.
[99] Watt: al-Ghazâlî. In: EI2,ii, S. 1040 b.
[100] Watt:Muslim Intellectual, S. 175
[101] G. E. von Grunebaum (Hrsg.): Der Islam im Mittelalter. Stuttgart: Artemis Verlag 1963, S.176.
[102] Dies vermutet Watt: Muslim Intellectual, S. 179, merkt aber an, daß in diesem Punkt keine sicheren Aussagen möglich und
noch weitere Forschungen erforderlich sind.
[103]Watt: Muslim Intellectual, S. 180.
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