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2. Die Auseinandersetzung mit der Philosophie
Neben seiner Lehrtätigkeit an der Nizâmîya beschäftigte sich Ghazâlî intensiv mit
der Philosophie, die er sich im Laufe von drei Jahren erschloĂź. Nach seiner eigenen Aussage war dies ein Novum: "Ich habe keinen einzigen Gelehrten des Islam gefunden, der sich mit dieser Aufmerksamkeit und
diesem Eifer dem Studium der Philosophie widmete." (Der Erretter, S.15) Tatsächlich gab es zu Ghazâlîs Zeit wenig Kontakt zwischen den Philosophen und den 'Ulamâ', wie die folgende Darstellung der Entwicklung der islamischen Philosophie zeigt.
2.1. Die Entwicklung der Philosophie in der islamischen Welt
Die griechischen Wissenschaften fanden durch Ăśbersetzungen aus dem
Griechischen und Syrischen Eingang in die islamische Welt.[22] In der letzten Phase des umaiyadischen Kalifats wurden zunächst Werke aus pragmatischen bzw. semipragmatischen Disziplinen, wie Medizin, Alchemie und Astrologie
übersetzt. Während des 'abbâsidischen Kalifats wurde diese Übersetzungstätigkeit ausgeweitet, und unter dem Kalifen al-Mansûr (137-159/754-775) wurde schließlich auch die Philosophie rezipiert. Den größten
Einfluss auf die islamische Kultur nahm die Philosophie fast 50 Jahre später, unter dem Kalifen al-Ma'mûn (196-218/812-833). In dem von ihm gegründeten Institut, dem bait al-Hikma (Haus der Weisheit) wurde eine große Anzahl von Büchern übersetzt und kopiert. Unter seiner Herrschaft trat auch der erste eigenständige islamische Philosoph auf: Ya'qûb al-Kindî (ca. 185-252/801-866). Diesem folgte eine Anzahl von Philosophen im 9., 10. und 11. Jahrhundert, wie ar-Râzî, in Europa als Rhazes bekannt, (gest. 313/926), al-Fârâbî (gest. 339/950) und Ibn Sînâ (gest. 370-428/980-1037), der in Europa als Avicenna bekannt wurde. Die beiden letzteren wurden besonders einflußreich. Ihre Lehren waren teilweise von Aristoteles beeinflusst, teilweise von Plotinus, und ihre politische Philosophie beruhte in weiten Teilen auf Plato, weshalb man auch vom 'islamischen Neoplatonismus' spricht. Das von islamischen Philosophen wie al-Fârâbî und Ibn Sînâ entwickelte eigenständige System wurde von den 'Ulamâ' kaum wahrgenommen, nur manche, wahrscheinlich auch al-Dschuwainî, hatten einige philosophische Bücher gelesen.[23] Insgesamt gab es zwischen den beiden Gruppen der Philosophen und der 'Ulamâ' wenig Austausch. Die islamischen Philosophen, von denen
viele zur Klasse der Sekretäre gehörten,[24] besaßen zumeist keine Ausbildung in den religiösen Wissenschaften, und ihr Ansehen war nicht besonders hoch: "The philosophers were a small coterie - almost of cranks and eccentrics, had it not been that some were excellent physicians."[25] Den 'Ulamâ' war die Philosophie aufgrund der Vorrangstellung, die diese der Vernunft gegenüber der Offenbarung einräumte, notwendigerweise suspekt.
2.2. Ghazâlîs Widerlegung der Philosophie
Ghazâlî untersuchte die Philosophie letztlich mit dem Ziel, ihr Lehrsystem
zurückzuweisen, da es sich an verschiedenen Punkten mit der Offenbarung im Widerspruch befand und von daher ein gefährlicher Einfluß auf die Muslime angenommen werden mußte. Schon vor Ghazâlî gab es von Seiten
der 'Ulamâ'Versuche, einzelne Punkte der Philosophen zu widerlegen: "No attempt, however had been made before the time of Gazali, to direct an attack from general points of view after thorough-going study,
against the entire system of Philosophy which had been built up in the East on a Greek foundation."[26]
Zwei Werke Ghazâlîs sind in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung: Maqâsid al-falâsifa (Die Ziele der Philosophen) und Tahâfut al-falâsifa (Die Widersprüchlichkeit der Philosophen). Das erstere ist ein Kompendium über Logik, Physik und Metaphysik entsprechend dem System der Philosophen, wobei er in weiten Teilen seiner Darstellung Ibn Sînâ folgt. Es handelt sich um eine reine Beschreibung des philosophischen Systems, ohne kritische Stellungnahme. Das Werk wurde auch in Europa bekannt, weshalb man Ghazâlî (Algazel) dort irrtümlicherweise für einen Philosophen hielt. Die Kritik und Widerlegung der Philosophie erfolgt dann in Tahâfut al-Falâsifa, das nach der Datierung in einem Manuskript Anfang 488 (1095) beendet wurde.[27] Auch dieses Werk wurde teilweise in Europa rezipiert, und zwar vor allem von christlichen Theologen im Kampf gegen die Philosophie von Ibn Ruschd
(Averroes).
Es erscheint ungewöhnlich, daß Ghazâlî zunächst ein Buch über die
Ansichten seiner Gegner schreibt, um sie dann in einem zweiten, unabhängigen Buch zu widerlegen. Ein Grund für diese Vorgehensweise könnte in der Absicht Ghazâlîs liegen, zu zeigen, daß er die philosophischen
Wissenschaften tatsächlich ebensogut wie die Philosphen selbst beherrschte. Gelehrte, die zuvor versucht hatten, die Philosophie anzugreifen, waren auch deshalb nicht erfolgreich, weil sie die philosophische
Terminologie nicht beherrschten: "Their arguments against philosophy were not taken seriosly, for they were unable to use philosophical terminology properly and could hardly grasp the meanings of the various complicated and abstract arguments."[28] Ein weiterer Grund könnte sein, daß er für die
Studenten der religiösen Wissenschaften eine von den Philosophen unabhängige Quelle bereit stellen wollte, aus der sie über Logik und Naturwissenschaften lernen konnten - Wissenschaften, die er
als durchaus nĂĽtzlich erachtete.[29]
Die Philosophie wird von Ghazâlî im Munqidh in verschiedene Wissenschaften unterteilt (Munqidh,
S. 20-25): Die ersten drei sind Mathematik, Physik und Logik, diese haben mit religiösen Fragestellungen nichts zu tun. Die vierte ist die Metaphysik, "hier finden sich die meisten Irrtümer der
Philosophen" (Der Erretter, S. 23), die fĂĽnfte ist die Politikwissenschaft, wo sich die Philosophen seiner Ansicht nach des Wissens der Propheten bedienen, und die letzte ist die Ethik, in der die
Philosophen die Abhandlungen der Mystiker benutzen und sie mit ihren eigenen Reden vermischen.
Das größte Übel liegt für Ghazâlî in den metaphysischen Lehren der
Philosophen, mit denen er sich im Tahâfut auseinandersetzt. Ghazâlî diskutiert in diesem Buch zwanzig verschiedene Thesen der zeitgenössischen Philosophen. Bei sieben dieser Thesen weist er nach, daß sie
nicht mit rationalen Mitteln bewiesen werden können, und daß damit der eigene Anspruch der Philosophen, alle Dinge rational erklären zu können, hinfällig ist. Es sind dies Thesen, die Ghazâlî zum Teil selbst
vertritt, wie z.B., daß Gott keinen Körper hat oder daß es unmöglich ist, daß zwei Götter existieren.[30] Ghazâlî geht es an dieser Stelle nicht darum, den Inhalt der Thesen zu widerlegen, sondern nachzuweisen, daß die Vernunft im Bereich der Metaphysik
nicht ausreichend ist. Er selbst hat in seiner Phase des Skeptizismus die Unzuverlässigkeit der Vernunft in diesem Bereich erkannt (s.o.).
In den übrigen dreizehn Thesen werden die Philosophen von Ghazâlî des Unglaubens, bzw.
der Häresie überführt. In drei Punkten erachtet er sie als kafirûn (Glaubensverweigerer), und damit als nicht mehr der Gemeinschaft der Muslime zugehörig, in den übrigen Punkten beurteilt er sie als mubtadi'ûn, ('Neuerer').[31] Die drei Thesen,
welche die Philosophen zu kafirûn werden lassen, sind:[32]
1. ihre Lehre von der Ewigkeit der Welt: Gott sei in der
Welt immanent. Daher kenne auch die Welt - wie Gott - keinen Anfang und kein Ende.
2. ihre Ablehnung der leiblichen Auferstehung: Nur die
Seele, nicht aber der Körper nehme an der Auferstehung teil.
3. ihre These, dass Gott nur die Universalia, nicht aber
die Partikularia kenne.
Anhand des letzten Punktes soll Ghazâlîs Argumentationsweise näher erläutert werden:
Um überhaupt vom 'Wissen' als Fähigkeit Gottes sprechen zu können, geht er davon aus, daß das Wissen Gottes bis zu einem gewissen Grad mit dem Wissen des Menschen vergleichbar sein muß. Dabei besteht natürlich
die Einschränkung, daß Gottes Wissen unendlich viel größer, bzw. überhaupt nicht begrenzt ist. So weiß Gott alles, was im Universum vor sich geht, in ähnlicher Weise, wie die Menschen wissen, was sich in
einem stark beschränkten Kontext abspielt. 'Wissen' besteht also auch in der Kenntnis von Einzelheiten. Die Philosophen, die verneinen, daß Gott die Einzelheiten (Partikularia) kenne, sprechen Gott damit die
Fähigkeit des Wissens überhaupt ab, da Wissen - wie zuvor gezeigt - gerade in der Kenntnis von Einzelheiten besteht.[33]
Ghazâlî greift im Tahâfut die Philosophie mit ihren eigenen Methoden an. Er begnügt sich nicht damit, zu den betreffenden Punkten Koranverse zu zitieren, die zeigen, daß sich die Ansichten der Philosophen im Widerspruch zu der Offenbarung befinden, sondern er bedient sich rationaler, logischer Argumentation. Der Tahâfut ist an die Philosophen selbst gerichtet, weshalb er ihre Sprache sprechen muß.[34] In einem späteren Werk Faisal at-tafrîqah bain al-islâm wa-l-zandaqa(h) (Das Kriterium zur Unterscheidung zwischen dem Islam und der Häresie) legt er die rechtlichen Gründe dar, aufgrund derer er die Philosophen zu kafirûn erklärt.[35]
Während Ghazâlî die Inhalte der philosophischen (metaphysischen) Lehren
größtenteils strikt ablehnte, war er für ihre Methoden sehr empfänglich. Insbesondere für die aristotelische syllogistische Logik zeigte er große Bewunderung.[36] Er verfaßte mehrere Werke über Logik, von denen die beiden wichtigsten Mi'yâr
al-'ilm fî fann al-mantiq (Der Standard des Wissens in der Kunst der Logik) und Mihakk an-nadhr fî l-mantiq (Der Prüfstein des Denkens in der Logik) an 'Ulamâ' gerichtet sind. Er erklärt darin die Methoden rationalen Denkens und erläutert die philosophischen Fachtermini. Indem er einerseits die philosophischen Methoden der Theologie einverleibte, gleichzeitig aber ihre Inhalte zurückwies, hat er entscheidend dazu beigetragen, die zweite große philosophische Bewegung in der islamischen Welt zu überwinden: "As al-Ash'arî by combining Mu'tazilite and Hanbalite views overcame the first wave of Greek influence, so by bringing together philosophy and theology al-Ghazâlî overcame the second wave, that is, the philosophical movement culminating in Avicenna."[37]
Teil 3: Die Auseinandersetzung mit der Bâtinîya
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[22] Die folgenden AusfĂĽhrungen zur Entwicklung der Philosophie in der islamischen Welt folgen Iysa a. Bello: The Medieval Islamic Controversy between Philosophie and
Orthodoxy. Leiden, New York u.a.: Brill 1989 (= Islamic Philosophy and Theology. Texts and Studies Vol. III ed. by Hans Daiber), S. 2ff.
[23] s. Watt: Muslim Intellectual, S.54.
[24] ebd. S.32.
[25] ebd. S.55.
[26] T.J. De Boer: The History of Philosophy in Islam. Transl. by Edward R. Jones. New York: Dover Publications Inc. 1967, S.154.
[27] Maurice Bouyges: Essai De Chronologie Des Oeuvres de Al-Ghazali (AlGazel). Beyrouth: Imprimerie Catholique 1959, S.23.
[28] Yasin Ceylan: "Al Ghazâlî between Philosophy and Sufism". In: The American Journal of Islamic Social Sciences 12 (1995), S.584.
[29] dies vermutet Watt: Muslim Intellectual, S.68.
[30] s. Watt: Muslim Intellectual, S. 59.
[31] Als "Neuerung" wird die EinfĂĽhrung von Praktiken, Ideen etc. in den Islam verstanden, die mit diesem nicht vereinbar sind und deshalb abgelehnt werden mĂĽssen.
[32] vgl. Abu Ridah: Al-Ghazâlî und seine Wiederlegung der griechischen Philosophie. S. 24.
[33] vgl. Oliver Leaman: "Ghazâlî and Averroes on Meaning". In: Al-Masâq 9 (1996-1997), S.182.
[34] Von Seiten der Philosophen erfolgte auch eine Reaktion auf dieses Werk: Ibn Ruschd, der 15 Jahre nach Ghazâlîs Tod geboren wurde, schrieb die Erwiederung :
Tahâfut at-Tahâfut (Die Widersprüchlichkeit der Widersprüchlichkeit).
[35] Iysa a. Bello: The Medieval Islamic Controversy between Philosophie and Orthodoxy, S.1.
[36] Watt: Islamic Philosophy and Theology, S.118.
[37] ebd. S.117.
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