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1. Jugend und Ausbildung
Abû Hâmid Muhammad Ibn Muhammad al-Ghazâlî wurde 450 H. (1058 n.Chr.) in Tûs in Churasân im Nordosten des heutigen Iran geboren. Da
sein Vater sehr früh starb, kamen er und sein Bruder Ahmad in die Obhut eines Freundes des Vaters, der ein Sûfî war. Später sorgte dieser dafür, daß die beiden Brüder in einer madrasa aufgenommen wurden, wo sie neben der Ausbildung auch Unterkunft erhielten. Es gibt nur wenige Informationen über die Familie Ghazâlîs, es ist allerdings anzunehmen, daß sie Kontakt zu den gelehrten Kreisen hatte, da ein Großonkel (vielleicht auch ein Onkel) Ghazâlîs einer der Gelehrten von Tûs war.[6]
Ghazâlîs Ausbildung in Tûs und Churasân, wohin er eine Studienreise unternahm, entsprach dem üblichen Lehrplan und
umfasste das Studium von Koran, hadith und fiqh (Jurisprudenz). Die Standardwerke aus der Zeit vor Ghazâlî und später auch von ihm selbst zeigen, was in den Schulen von Tûs und Churasân zum Lehrplan gehörte: Es ging hauptsächlich um gottesdienstliche Handlungen (rituelle Reinheit, Gebet, Fasten, zakat, die Pilgerfahrt) und um rechtliche Fragen im Zusammenhang mit Heirat und Scheidung, Erbrecht, Strafrecht, u.a.m. [7]
Im Alter von 19 Jahren ging Ghazâlî nach Nîšâpûr an die Nizâmîya, wo er ein Schüler des berühmten Gelehrten
al-Dschuwainî wurde. Nîšâpûr war damals ein kulturelles Zentrum der östlichen islamischen Welt und Wirkungsort prominenter Gelehrter, wie auch Poeten und Staatsmänner.[8] Die Nizâmîya gehörte zu den neun Schulen, die der Wezir Nizâm al-Mulk im Laufe seiner Amtszeit (1063-1092) gründete. Diese Schulen spielten eine wichtige Rolle in der Politik Nizâm al-Mulks, die sunnitische Theologie gegenüber sektiererischen Gruppen, insbesondere gegenüber der Ismâ’îlîya, zu stärken. Die schî'itischen Fâtimiden, zu denen die Ismâ’îlîya gehört, waren die politischen Gegner der sunnitischen Seldschuken: Sie erkannten das Kalifat in Baghdâd nicht an und hatten ein eigenes Kalifat in Kairo errichtet. Die Auseinandersetzung spielte sich auch auf der religiösen Ebene ab, wobei Nizâm al-Mulk die sunnitische Orthodoxie verteidigte. Dabei unterstützte er die Schule der Aš'arîya, der auch Ghazâlî angehörte, indem er aš'arîtische Gelehrte an die Nizâmîyas berief.[9]
Der Lehrer Ghazâlîs, Abû l-Ma'âli al-Dschûwainî, auch bekannt unter dem Namen Imâm al-Harâmain, folgte seinem Vater
nach dessem Tod als Gelehrter in Nîšâpûr im Alter von weniger als zwanzig Jahren. Er verbrachte einen vierjährigen Studienaufenthalt in Mekka und Medina[10] und wurde nach seiner Rückkehr an die eigens für ihn
gegründete Nizâmîya in Nîšâpûr berufen. Ghazâlî war sein Schüler bis zu dessen Tod im Jahre 478/1085. Sein Studium bei ihm umfasste vor allem Kalâm [11], aber auch Logik, Dialektik und Philosophie.[12] Es ist anzunehmen, dass er
bei al-Dschûwainî außerdem eine Einführung in die Mystik erhielt, da er ihn in späteren sûfischen Schriften als Autorität ("unser Schaich") zitiert.[13] Al-Dschûwainî hat einen großen Einfluß auf Ghazâlî ausgeübt:
“Dessen Formulierung der Beweisgründe für den religiösen Glauben, die Verwendung der aristotelischen Schlußfolgerung neben hoher
Einschätzung der Frühzeit des Islam und der psychologischen Ausbildung der Persönlichkeit haben bei Ghazâlî einen bleibenden Eindruck hinterlassen.“ [14]
Nachdem sein Lehrer starb, ging Ghazâlî im Alter von 27 Jahren zum Hof des Wezirs Nizâm al-Mulk, in dessen Kreis er sich
sechs Jahre lang aufhielt. Im Jahre 484/1091 wurde er schließlich vom Wezir an die Nizâmîya in Baghdâd berufen, so daß er im Alter von 33 Jahren eines der höchsten religiösen Ämter erreichte, die
im Staat zu vergeben waren.
Aus seiner Zeit an der Nizâmîya stammen viele seiner juristischen und theologischen Werke, wie eines über das islamische
Recht (fiqh), Al-basît fî l-furû' (Das Ausführliche in der Lehre von den Zweigen, d.h. dem fiqh) [15], während Al-mustafsâ fî l-fiqh (Das Geläuterte über die
Rechtswissenschaft, eine Schrift über die Quellen und Grundprinzipien des islamischen Rechts) während seiner Zeit an der Nizâmîya in Nîšâpûr 503/1109 geschrieben wurde.[16] Zu seinen theologischen Schriften aus dieser Zeit (oder kurz nach der Abreise aus Baghdâd) gehört sein wichtigstes dogmatisches Werk Al-iqtisâd fi l-i'tiqâd (Das richtige Maß im Glauben), das an al-Dschuwainîs Iršad angelehnt
ist, aber im Gegensatz zu diesem in der Argumentation durchgehend mit der aristotelischen Logik arbeitet.[17]
1.1. Ghazâlîs Skeptizismus
Möglicherweise erlebte Ghazâlî in dieser Zeit seine erste Krise, seine Phase des Skeptizismus, die er im Munqidh beschreibt: Ausgehend von der Beobachtung, daß jedes Kind in der Religion seiner Eltern erzogen wird, die ihm durch Belehrung vermittelt wird, beschäftigt sich Ghazâlî mit der Frage, wie man überhaupt zwischen dem Wahren und dem Falschen unterscheiden kann. Daran knüpft sich die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis selbst. Er stellt die sinnlichen Wahrnehmungen als Quelle wahrer Erkenntnisse in Frage, und schließlich auch die Vernunft:
“Vielleicht versteckt sich ja hinter der Vernunfterkenntnis ein anderer Richter, welcher, sobald er in Erscheinung tritt, das Urteil der
Vernunft der Lüge bezichtigt, wie der Richter der Vernunft erschienen ist und das Urteil der sinnlichen Wahrnehmung als Lüge bezeichnet hat. Die Tatsache, daß dieses Erkenntnisvermögen nicht
hervortritt, beweist noch nicht die Unmöglichkeit seiner Existenz.” (Der Erretter, S.8)
Seine Zweifel an der Möglichkeit jeder Erkenntnis verschlimmern sich, und werden schließlich zu einer "Krankheit",
die ungefähr zwei Monate andauerte. Erst durch einen göttlichen Eingriff wird er von dieser Krankheit geheilt:
“Dies geschah nicht durch einen geordneten Beweis und eine systematische Redeweise, sondern durch ein Licht, das der erhabene Gott in
meine Brust warf, jenes Licht, welches als Schlüssel der meisten Erkenntnisse gilt. Wer also glaubt, daß die Enthüllung der Wahrheit nur von den niedergeschriebenen Argumenten abhängig ist, der hat
die große Barmherzigkeit Gottes eingeengt.” (Der Erretter, S.10)
Aufgrund dieses Erlebnisses kommt Ghazâlî zu der Einsicht, daß wahre Erkenntnisse weder durch sinnliche Wahrnehmung, noch
durch rationale Überlegungen zu gewinnen sind, sondern nur durch die Erfahrung des göttlichen Wirkens.
Abu Ridah nimmt an, dass diese Phase des Zweifels während Ghazâlîs Aufenthalts bei Nizâm al-Mulk stattgefunden haben muss,
wo er - kurz nach dem Verlust seines Lehrers - auf andere Meinungen und Ansichten trifft: "Das reiche Geistesleben in der Umgebung des grossen Staatsmannes und Gelehrten sowie in Baghdad selbst hat
aller Wahrscheinlichkeit nach die vorherigen Überzeugungen Ghazâlîs erschüttert."[18] Macdonald geht dahingegen davon aus, dass der Zweifel
erst bei seiner Berufung nach Baghdâd begann, [19] während Obermann vermutet, dass dies in der Zeit nach seiner Berufung der Fall war. [20] Ghazâlî hat in seiner Autobiographie den Zeitpunkt seines Zweifels nicht näher bestimmt, die Beschreibung seines Skeptizismus läßt jedoch vermuten, dass die Auseinandersetzung mit der Philosphie eine entscheidende Rolle spielte. Dies zeigen seine Überlegungen über die Natur des Wissens und der Erkenntnisse, in denen manche seiner Argumente Ähnlichkeiten zu denen zeigen, welche die Philosophen benutzten.[21] Zwar ist davon auszugehen, dass Ghazâlî schon bei al-Dschuwainî Kontakt mit der Philosophie hatte - insbesondere was die Logik betrifft - eine intensivere Beschäftigung mit der Philosophie setzte jedoch erst nach seiner Berufung an die Nizâmîya ein. Vor diesem Hintergrund erscheint ein Zeitpunkt nach der Aufnahme der Lehrtätigkeit in Baghdâd am wahrscheinlichsten.
Teil 2: Die Auseinandersetzung mit der Philosophie
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[6] W. Montgomery Watt: Muslim Intellectual. A Study of Al-Ghazali. Edinburgh: University Press 1963, S.20.
[7] Samuel M. Zwemer:A Moslem Seeker After God. New York, Chicago, London, Edinburgh: Fleming H. Revell Company 1920, S. 74.
[8] A.K.S. Lambton: "Sufis and the state in Medieval Persia". In: State and Islam ed. by C. van Dijk u. A.H. de Groot, Leiden: Research School CNWS 1995, S.20.
[9] Yavari weist daraufhin, daß Nizâm al-Mulk im Rahmen seiner Politik, sektiererische Gruppen 'auszurotten' (S.560) nicht nur die Aš'arîya
unterstütze, sondern zum Ziel hatte, die Loyalität der gesamten 'religiösen Klasse' zu gewinnen, um seine Machtbasis auszuweiten. Aus diesem Grund versuchte er auch, Konflikte zwischen den
verschiedenen Schulen zu entschärfen, so z.B. zwischen den Hanbaliten und den Aš'arîten (S.557). Yavari, Neguin: "Nizâm al-Mulk and the Restoration of Sunnism in Iran in the Eleventh
Century". In: Tahqîqât-i-islâmî 10 (1996), S.570-550.
[10] Dieser Aufenthalt ist der Grund für seinen Beinamen Imâm al-Harâmain. s. Samuel M. Zwemer:A Moslem Seeker After God. S.78.
[11] Der Begriff Kalâm wird verschieden übersetzt. Watt übersetzt mit "philosophical or rational theology" (Watt: Muslim
Intellectual, S.92),Fakhry mit "systematic theology" (Fakhry, Majid: A short Introduction to Islamic Philosophy, Theology and Mysticsm. Oxford: Oneworld Publications, 1997, S.13), Elschazli
mit "islamischer Scholastik" (Ghazâlî: Der Erretter aus dem Irrtum. hrsg. v.'Abd Elhamîd Elschazlî, S.749).
[12] Muhammad Abd al-Hadi Abu Ridah: Al-Ghazâlî und seine Wiederlegung der griechischen Philosophie. Madrid 1952, S.5.
[13] Abû-Hâmid Muhammad al- Ghazâlî: Der Pfad der Gottesdiener. Übers. u. erl. von Ernst Bannert. Salzburg: Otto Müller Verlag 1964,
S.12.
[14] ebd.
[15] Von diesem Werk schrieb Ghazâlî einen Auszug al-wâsit (Das Mittlere), aus dem er ein weiteres Kompendium verfaßte al-wadschîz (Das Zusammengefasste), von dem die meisten Handschriften existieren. (Richard Gosche: Über Ghazzalis Leben und Werke.
Aus den Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin: Druckerei der Königlichen Akademie der Wissenschaften 1858, S. 265, 266).
[16] Watt, Montgomery: al-Ghazâlî. In: EI2ii, S. 1040 a.
[17] Watt: al-Ghazâlî. In: EI2ii, S. 1040 b.
[18] Abu Ridah: Al-Ghazâlî und seine Wiederlegung der griechischen Philosophie. S. 6.
[19] MacDonald: Al-Ghazâlî, In: EI1, ii, S. 154 b.
[20] Obermann, J.: Der Philosophische und Religiöse Subjektivismus Ghazâlîs. Ein Beitrag zum Problem der Religion. Wien und
Leipzig: Wilhelm BraumĂĽller 1921, S.18. Dieser Meinung ist auch Brockelmann: Geschichte der arabischen Literatur I, Leiden: Brill, 1943, S.420.
[21] s. Watt: Muslim Intellectual, S.51.
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